Weiß wie Milch, rot wie Blut - D'Avenia, A: Weiß wie Milch, rot wie Blut - Bianca come il latte, rossa come il sangue
einen direkten Draht zu Gott, vielleicht sollte ich sie nach Hots Handynummer fragen, dann kann ich ihm die Nachricht schicken. Hot, ich bin sicher, dass Du Beatrice gesund machst! An Deiner Stelle würde ich’s machen, und bestimmt bist Du besser als ich…
I ch bin wieder bei Beatrice. Ich hab mir schon fast Sorgen gemacht, aber dann hat ihre Mutter mir eine Nachricht geschickt. Sie schläft, abgemagert und matt. Ein Tropf zählt die verstreichenden Sekunden. Sie öffnet die Augen, und ihr Lächeln scheint von weither zu kommen, voller Wehmut, wie bei alten Menschen.
»Ich bin so wahnsinnig müde, aber ich bin froh, dass du gekommen bist. Ich wollte etwas in mein Tagebuch schreiben, aber ich kann den Stift nicht halten. Ich komme mir so blöd vor.«
Ich ziehe ein Blatt Papier aus der Tasche und stecke es heimlich hinter die zu beschreibende Seite: das Blatt mit den schwarzen Linien, um auf weißem Papier in der Zeile zu bleiben. Wenn ich will, klemme ich mich sehr wohl dahinter! Ich schreibe auf, was Beatrice mir diktiert, hin und wieder hält sie inne, ihre Stimme bricht, sie ringt nach Luft. Dann nickt sie ein. Ich warte und sehe zu, wie sie davondriftet wie ein Boot ohne Motor, ohne Segel, ohne Ruder, fortgetragen von der Strömung. Sie öffnet die Augen.
»Ich bin zu müde … erzähl du mir was, Leo.«
Ich weiß nicht, worüber ich reden soll. Ich will sie mit meinem Schwachsinn nicht müde machen. Ich erzähle ihr von der Schule und von meinen Problemen, was alles passiert ist dieses Jahr, vom Träumer, von Gandalf, von Niko und vom Fußballturnier, das wir Piraten gewinnen werden … ich erzähle ihr von Silvia, wie oft sie mich gerettet hat, von dem Tag, an dem sie mit mir die Schule geschwänzt und mich dann ermutigt hat, sie zu besuchen … plötzlich unterbricht mich Beatrice. »Wenn du von Silvia redest, leuchten deine Augen wie Sterne …«
Beatrice sagt manchmal unfassbare Sachen mit der Arglosigkeit eines Kindes, das nach dem tausendsten Keks fragt. Ich verstumme wie jemand, dem eine große Ungerechtigkeit widerfährt, gegen die er jedoch machtlos ist. Ich kann nicht Silvia lieben, ich kann und will nur Beatrice lieben: Und ausgerechnet sie sagt mir, dass meine Augen wie Sterne leuchten, wenn ich von Silvia spreche.
»Warst du jemals verliebt, Beatrice?«
Sie seufzt ein schwaches Ja und schweigt. Ich begreife, dass jetzt nicht der richtige Moment ist, um weiterzufragen, aber ich weiß auch, dass nur sie die richtigen Antworten weiß.
»Und wie war das?«
»Es war wie ein Zuhause, zu dem ich zurückkehren konnte, wann ich wollte. Als würde man tauchen. Dort unten ist alles still und reglos. Es herrscht vollkommene Stille. Frieden. Selbst wenn die See stürmisch ist.«
Schweigend höre ich zu und habe den Verdacht, dass sich die Worte, die ich in meinem Leben benutzt habe, den Begriff »Liebe« noch mal vornehmen müssen, doch wenn ich es jetzt nachschlage, stoße ich nur auf den Eintrag »siehe das Wort Beatrice«. Während ich derart sinnlosen Gedanken nachhänge, fällt Beatrice in einen jähen Schlummer, als hätte jemand sie plötzlich ausgeknipst. Oder vielleicht hat sie nur die Augen geschlossen, aber mir wird klar, dass ich jetzt gehen muss.
Silvia ist blau, nicht rot. Und trotzdem bringt Blau meine Augen zum Leuchten.
W e nn man auf eine Frage keine Antwort hat, gibt’s nur eins: Wikipedia. Auf Wikipedia steht allerdings nicht, ob Silvia für mich mehr sein kann als eine Freundin; die Frage quält mich wie die Zikaden im Sommer, und ich kriege sie einfach nicht aus dem Kopf. Ich versuche sie zu splitten. Liebt Silvia mich? Liebe ich Silvia? Ich mache mindestens ein Dutzend Tests auf Facebook, die einem verraten sollen, ob eine Person einen liebt. Einhelliges Ergebnis: Silvia tut mir gegenüber alles, was ein verliebter Mensch tut, der sich nicht traut, seine Liebe zu beichten. Jetzt bin ich dran. Aber das will ich nicht per Test rauskriegen. Dazu ist die Sache zu wichtig. Ich muss es persönlich herausfinden.
»Silvia, lernen wir zusammen? Ich bräuchte Hilfe bei den griechischen Dichtern.«
Dichtung ist total sinnlos, sie ist nur eine Ausrede, um sich zu verlieben.
W ährend Silvia die Übersetzung einiger sauschwerer Sappho-Verse wiederholt – »Aphrodite, ewig, auf buntem Throne …« –, starre ich sie ohne zuzuhören an und folge den Bewegungen ihrer Lippen.
»… Aber du, Sel’ge, / fragtest, was mich wieder bekümmre, was ich wieder dich rufe, / was ich mir im
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