noch eine Serviette über dem Arm. »Ich habe total Appetit auf Eier im Glas. Weich gekocht und mit Schnittlauch oben drauf. Und dazu Toast. Und zu trinken hätte ich gern einen großen Becher Espresso mit Vollmilch. Ach ja und ein bisschen Obst könnte auch nicht schaden. Vielleicht kannst du mir ja einen Apfel schälen?«
JamieTim verzog keine Miene, schlug die Hacken zusammen und verließ das Zimmer. »Wird sofort erledigt«, rief er im Hinausgehen.
Ich tastete vorsichtig meinen Kehlkopf ab und ging dann ins Bad, um zu schauen, welche Spuren Bellas Würgeattacke hinterlassen hatte. Der Spiegel warf das Bild eines verängstigten, jungen Mädchens zurück, dessen Hals grün und blau schimmerte. Meine Augen lagen in tiefen Höhlen, mein Gesicht war kalkweiß. Bella hatte es gestern zwar nicht geschafft, mich physisch zu erledigen, aber psychisch war sie schon ziemlich dicht dran.
Ich versuchte, meine trüben Gedanken durch kaltes Wasser zu vertreiben, mit dem ich mein Gesicht wusch, doch ich spürte, dass es diesmal nicht so einfach werden würde, das Geschehene zu verdrängen. Diesmal würde ich auch nicht darum herumkommen, meinen Vater zu verständigen. Er musste wissen, was seine Frau mir angetan hatte! Also ging ich zurück ins Zimmer, um ihn anzurufen.
Zuerst versuchte ich es auf seinem Handy. Island lag in derselben Zeitzone wie Deutschland – vielleicht hatte ich Glück und erwischte Dad in einer Arbeitspause. »Diese Rufnummer ist nicht vergeben!«, teilte mir eine freundliche Stimme mit. Nanu? Hatte ich mich verwählt?
Ich versuchte es ein zweites und ein drittes Mal. Immer mit demselben Ergebnis. Okay, dann also per E-Mail, dachte ich seufzend und formulierte im Geiste den Text, während der Computer hochfuhr. Doch Dad war mir bereits zuvorgekommen:
An:
[email protected]Von:
[email protected]Betreff: Auf nach Grönland!
Mein allerliebstes Töchterlein,
ich hoffe, dass diese Nachricht dich bald erreicht, denn sie ist die letzte, die ich dir aller Voraussicht nach in den kommenden Wochen schicken kann. Ich muss spontan für einen erkrankten Kollegen einspringen und bin nun auf dem Weg zu einer Grönland-Expedition, bei der die Besatzung wichtige Messungen in Zusammenhang mit der Klimaerwärmung vornehmen wird. Wir haben an Bord ein Satellitentelefon, von dem aus ich versuchen werde, mich zu melden. Mein Handy funktioniert in diesen Gewässern nicht, E-Mail wahrscheinlich ebenfalls nicht. Ich hätte dich so gern noch gesprochen, mein allerliebster Schatz, aber Bella sagte, du seist im Augenblick viel unterwegs. Nun ja, es ist schließlich Sommer und du hast Ferien… Außerdem hat Bella angedeutet, dass du verliebt und deshalb momentan kaum ansprechbar bist. Das klingt schön, ich freue mich riesig für dich! Ist es dieser Jonathan, den ich auf dem Dom kennengelernt habe? Ich bin schon gespannt, alles zu hören, wenn ich wieder da bin. Ich kann es kaum erwarten, dich wieder in meine Arme zu schließen. Die kommenden Wochen werden gewiss eine große Herausforderung für mich. Wir leben alle auf engstem Raum und müssen uns miteinander arrangieren. Nun ja – auch eine Erfahrung ;-).
Ich muss jetzt schließen. Versuch bitte, dich mit Bella zu vertragen, bis ich wieder da bin.
Lass es dir gut gehen und genieß den Sommer!
Dad
OH MEIN GOTT! DAS DURFTE NICHT WAHR SEIN!
Bella versuchte, mich umzubringen, und ausgerechnet zu dieser Zeit wurde mein Vater in die Arktis geschickt? Vor Angst brach mir der Schweiß aus allen Poren, ich war innerhalb von Sekunden pitschnass. Was sollte ich denn jetzt tun?
Ich musste dringend mit jemandem reden. Wie gut, dass JamieTim nebenan war! Er war gerade dabei, in aller Seelenruhe Schnittlauch zu waschen und in kleine Stücke zu schneiden. Der Espresso blubberte im Herdkocher und erfüllte die Küche mit seinem angenehm bitteren Aroma.
»Setz dich, Süße, und mach’s dir gemütlich«, ordnete JamieTim an und schob mir einen Stuhl unter den Po.
»Das ist wirklich lieb von dir, aber das kann ich gerade noch selbst«, versuchte ich zu protestieren. Am besten ich frühstückte erst einmal in Ruhe und versuchte, ein bisschen runterzukommen, bevor ich JamieTim von Dads Reise erzählte. Im Radio lief ein schaurig-schöner Song, in dem es um Angst, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und die Sehnsucht der Sängerin nach Sicherheit und Halt ging. Ich summte leise mit und hatte große Mühe, Tränen des Selbstmitleids zu unterdrücken, die sich in meine Augenwinkel