Weiß wie Schnee, rot wie Blut, gruen vor Neid
die Treppe heruntergetrabt kam, neben ihm – mein Puls beschleunigte sich – Katharina Linke. »Frau Sandmann will zu mir«, erklärte Julius dem Wesen, das missgestimmt davonstöckelte und sich vermutlich nie wieder von diesem brutalen Eingriff in ihre Rezeptionistinnen-Kompetenz erholen würde.
»Hallo Sarah, schön, dass du da bist! Darf ich euch miteinander bekannt machen: Das ist Sarah Sandmann, mit der wir gleich den Probedreh machen werden – Katharina Linke, die Regisseurin des Spots.«
»Freut mich sehr, ich bin ein großer Fan von Ihnen! Ich liebe Diesseits des Schweigens und Im Sommer drei Monate«, hörte ich mich sagen und wurde unsicher. Klang ich wie ein blödes Film-Groupie?
Doch die Regisseurin lächelte freundlich. »Schön, das zu hören. Und schön zu wissen, dass ich diesen Spot offenbar mit jemandem drehen kann, dem meine Ideen und meine Arbeit nicht fremd sind.« Und zu Julius gewandt: »Hat HeavenlyNature sich denn schon verbindlich für Frau Sandmann entschieden?«
»Nein, noch nicht ganz. Wir drehen gleich einen Probe-Take mit Sarah, präsentieren ihn den Zuständigen für Werbung und Marketing und sehen dann weiter.«
»Dann wünsche ich uns beiden viel Glück, Frau Sandmann, und hoffe, dass wir den Dreh zusammen machen können.« Mit diesen Worten gab sie mir die Hand und ich fühlte, ohne hinzusehen, dass das Wesen mir zornige Blicke über den Tresen schickte.
»So, Sarah, gleich geht’s los, hier rüber.«
Julius und ich bogen um die Ecke und landeten schließlich in einem Raum voller Kameras und Scheinwerfer. Ein drahtiger Typ mit Ziegenbärtchen und spärlichen Haaren, die zum Zopf gebunden waren, diskutierte eifrig mit einer jüngeren Frau und lächelte erfreut, als wir eintraten. »Sarah, schön Sie zu sehen. Ich bin Patrick, der Kameramann. Ju, hast du den Satz für Sarah dabei?«
Julius nahm einen Zettel aus seinem schwarz glänzenden Notizbuch und gab ihn mir.
»Rote Lippen muss man küssen, denn zum Küssen sind sie da«, las ich. Der ehrliche Teil meiner Persönlichkeit wollte schon empört »Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?« ausrufen, doch der vernünftige sagte stattdessen: »Na das kann ich mir gerade noch merken.«
»So, Sarah, es geht los. Stell dich bitte vor diesen Spiegel und trag den Stick auf. Fahr dir anschließend mit der Zunge über die Lippen, als hättest du etwas besonders Leckeres gegessen, und sag dann den Satz von Ju. Danach lächelst du bitte so verführerisch, wie du kannst, okay?«
»Okay, alles klar!«
Die Anweisung klang nicht besonders kompliziert, vermutlich war ich in einer Viertelstunde wieder daheim und konnte beim Bügeln irgendeine Daily Soap gucken. Ich stellte mich also vor den Spiegel, versuchte, nichts zu hinterfragen und ausschließlich an die Kohle zu denken. Julius drückte mir einen Lippenstift in die Hand, dessen Design auf Gothic getrimmt war. Spätestens seit einen von sämtlichen Büchern und Filmplakaten lüsterne Vampirblicke verfolgten, verspürten scheinbar alle Verpackungsdesigner ein tiefes Bedürfnis, Produkte in schwarze Spitze, Tüll oder Ähnliches zu hüllen.
Auch der Farbton des Lippenstifts passte dazu: ein dunkler Pflaumenton. Plume, um genau zu sein. Eigentlich ganz hübsch…
»HeavenlyNature/Plume/Sarah Sandmann. Klappe, die erste.«
Hui, schon ging’s los – Auftritt ich, der neue Stern am Lippenstifthimmel. Der Beginn einer hoffnungsvollen Karriere als Werbemodel. War das gut oder war das gut?!
Ich grinste gemäß Anweisung in den Spiegel, drehte mit (wie ich hoffte) anmutiger Bewegung den Stick aus der Hülle und wollte ihn gerade Kosmetik-junkiemäßig auf meine Lippen schmieren, als…
Was bitte war das? Anstatt aufrecht wie ein Zinnsoldat zu stehen und sich von mir auf den Mund befördern zu lassen, bog sich der Stick, spielte Schiefer Turm von Pisa und landete – plopp! – auf dem edlen Parkettfußboden.
»Oh, sorry, ist wohl ein bisschen zu warm hier«, rief die Assistentin hektisch, riss mir die leere Hülle aus der Hand und schmiss sie in den Papierkorb. Dann begann sie, den Fußboden mit einem Haushaltstuch zu traktieren. Patrick guckte genervt und rollte mit den Augen. »Nina, Nina… hast du Sarah denn keinen Stick aus der Kühlbox gegeben? Du weißt doch, was die Hitze der Scheinwerfer mit dem Zeugs anrichtet! Mann, ey, du machst so was doch nicht zum ersten Mal!«
Nina wurde feuerrot und tat mir ein bisschen leid, wie sie da so kniete und wischte. Ob ich ihr helfen sollte?
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