Weiss
dreißigjährigen Laufbahn als Gesetzeshüter war er natürlich auch früher schon auf solche Verrückten wie Kara gestoßen, aber die hatten alle die andere Seite vertreten, die der Kriminellen. Kara war allerdings auch ein Krimineller, ein Gewalttäter, der ihn – und wer weiß wie viele weitere Opfer – zudem noch erpresst hatte, ohne für seine Taten zur Verantwortung gezogen zu werden. Wie könnte er den Mann loswerden? Er wollte wegen Kara nicht noch einmal ähnlich in die Klemme geraten wie während des Raketenkonflikts im vergangenen Jahr. Außerdem wusste Kara zu viel über ihn – er kannte sein einziges Geheimnis.
Die Attacke gegen Anders Aasen stellte vielleicht zusammen mit früheren Vergehen Karas einen ausreichenden Kündigungsgrund dar, aber das war nur ein schwacher Trost. Er konnte Kara nicht rausschmeißen, solange er nicht dafür gesorgt hatte, dass Betha Gilmartin vom britischen Auslandsnachrichtendienst seinGeheimnis um die Ereignisse vor vielen Jahren im Londoner Stadtteil Mayfair vergaß.
Kara hatte in der Tat etwas Ungewöhnliches an sich, in seiner Gesellschaft war man gezwungen, ständig auf der Hut zu sein. Beschämt musste er sich eingestehen, dass er vermutlich Angst hatte vor dem unberechenbaren Mann oder vielmehr davor, was für Schwierigkeiten Kara ihm diesmal bereiten könnte.
3
Dienstag, 10. August
Das Taxi hielt am weißen Tor des Campingplatzes »Dunav«, zehn Kilometer vom Belgrader Zentrum entfernt. Hier wollte das finnische Ehepaar, das Vilma gesehen hatte, seinen Wohnwagen für eine Nacht abstellen, falls die Standgebühr übernommen wurde. Das hatte Kati Soisalo am Morgen in der finnischen Botschaft erfahren. Hoffentlich waren die Numminens nicht doch schon abgefahren, die einzigen Menschen, die sie davon überzeugen konnten, dass Vilma noch lebte. In ihr tobte ein Widerstreit der Gefühle: Hoffnung und Sehnsucht auf der einen, Angst auf der anderen Seite. War sie in derselben Stadt wie ihre Tochter?
Kati Soisalo nahm ihre Umhängetasche, drückte dem Taxifahrer ein Bündel Dinarscheine in die Hand und lief hastig zu dem Büro neben dem Tor. Das Schiebefenster der kleinen Bude öffnete sich, ein schüchtern wirkendes Mädchen beugte sich vor und kniff geblendet vom gleißenden Sonnenlicht die Augen zusammen.
»Ich suche ein Wohnmobil mit dem Kennzeichen JBZ-863 aus Finnland. Möglicherweise hat es auch das Kennzeichen FIN oder EU«, sagte Kati Soisalo, ohne zwischendurch Luft zu holen.
Das Mädchen lächelte, antwortete etwas auf Serbisch und zeigte mit der Hand erst auf das Tor, dann auf die Wanduhr.
Kati Soisalo wiederholte die Frage in ihrem holprigen Deutsch, gab dann aber auf, als das Mädchen mit denselben Gesten antwortete.
JBZ-863, JBZ-863 … Kati Soisalo rannte über den Campingplatz und schaute auf die Kennzeichen. Sie kam schnell voran, das Gelände war relativ klein, es gab nicht viele Wohnwagen undnoch weniger aus Finnland. Das Ufer der Donau rückte immer näher, es blieb nur noch eine Handvoll Fahrzeuge übrig, warum zum Teufel hatte die Botschaft die Numminens nicht gezwungen, in Belgrad zu bleiben?
»Tuula, komm mal her und schau dir an, in was für einem Kahn die Einheimischen dort angeln!«
Kati Soisalo empfand eine ungeheure Erleichterung, als sie den Satz in Finnisch hörte. Sie beugte sich vor, legte die Hände auf die Knie und holte ein paarmal gierig Luft, bis sie wieder ruhig atmete. Endlich würde sie die Gewissheit erhalten, dass Vilma am Leben war.
»Eino Numminen?«, sagte sie zu dem dickbäuchigen Mann im Trikot der finnischen Eishockeynationalmannschaft, der am Flussufer stand.
»Ach du lieber Gott. Ihre Tochter ist verschwunden?«, fragte Tuula Numminen, die aus dem Wohnwagen herauskam. »Ich habe gar nicht gewusst, dass auch in Finnland Kinder entführt werden.«
»Jedes Jahr mehrere Kinder, schlimmstenfalls Dutzende. Allerdings ist meistens ein Elternteil der Schuldige«, erwiderte Kati Soisalo. »Aber Vilma ist in Dubrovnik verschwunden, und in Osteuropa ist Kindesraub leider etwas Alltägliches.«
»Ich war ein bisschen dagegen, hier zu bleiben«, sagte Eino Numminen mit verlegener Miene, »doch das ist gar kein übler Campingplatz.« Er deutete mit der Hand in Richtung Donau. »Es gibt wenig Orte, wo man so nahe am Ufer parken kann.«
Sie reichten sich die Hand und stiegen dann in den Wohnwagen. An den Wänden des gemütlich eingerichteten Raumes hingen Fotos der Enkel und im Radio war eine Sendung in finnischer Sprache
Weitere Kostenlose Bücher