Weiss
zu hören. Kati Soisalo stand jedoch nicht der Sinn danach, mit den Numminens zu plaudern, sondern sie erzählte ihnen von Vilmas Verschwinden.
Dabei packte sie alles aus, was sich in ihrer Tasche befand, undlegte Fotos von Vilma in einer Reihe auf den kleinen Esstisch. »Ist dies hier das Mädchen, das Sie gesehen haben?«
Sie hatte Zusammenfassungen und Listen mit, in denen alles Mögliche aufgeführt war: Vilmas Lieblingsspeisen, die Namen ihrer Phantasiefreunde und Puppen, die Lieder und Kinderreime, die Vilma auswendig konnte, die Namen der Erzieherinnen und Kinder in der Kindertagesstätte und anderer Menschen, die Vilma kannte und möglicherweise erwähnte … Kurzum alles, was anderen helfen könnte, zu erkennen, dass es sich um ihre Tochter handelte. Sie hatte ihr Interesse an Vilma nicht nach wenigen Wochen verloren wie die Polizei, sondern drei Jahre Zeit gehabt, sich Mittel und Wege auszudenken, wie sie die Suche nach ihrer Tochter unterstützen könnte, wenn sich eines Tages die Gelegenheit bot.
Das Ehepaar setzte sich an den Tisch und betrachtete die Fotos mit gerunzelter Stirn. Im Radio begann gerade eine historische Sendung aus den siebziger Jahren, in der Präsident Kekkonen die Finnen warnte, ihnen stünden schwere Zeiten bevor.
»Das ist wie russisches Roulette«, dachte Kati Soisalo. Die Antwort »nein« wäre das Ende all ihrer Hoffnung, und ein »Ja« würde ihr ein neues Leben mit ihrer Tochter schenken. Der Einsatz war viel zu hoch.
»Es ist ziemlich schwierig, das zu sagen, ich bin mir nicht sicher. Wann sind diese Fotos gemacht worden?«, fragte Eino Numminen und fuhr sich durch die grauen Haare.
»Vor drei Jahren, kurz bevor Vilma verschwunden ist. Einige habe ich in Dubrovnik aufgenommen … in jenem Urlaub.«
Die Angst, sie könnte jeden Moment die falsche Antwort hören, quälte sie immer mehr. Gebannt starrte sie auf ihr liebstes Foto von Vilma und versuchte sich vorzustellen, wie sie jetzt aussehen könnte. Vielleicht hatte man ihr blondes Haar gefärbt oder kurz geschnitten, und ihr Gesicht glich garantiert auch nicht mehr dem, das sie kannte. In drei Jahren verändern sich Kinder enorm, manchmal war es ihr so vorgekommen, als wäre Vilmaschon in den knapp zwei Tagen an einem Vater-Wochenende gewachsen und gereift.
»Wie hat sich das Mädchen verhalten, haben Sie sein Lachen gehört?«, fragte Kati Soisalo eindringlich. »Vilma hat eine etwas spezielle Art zu lachen, ihre Stimme ist dann so hoch wie bei einem Sopran.«
Die Numminens schüttelten den Kopf und mieden es, Kati Soisalo anzuschauen.
»Haben Sie gesehen, wie das Mädchen hüpft? Vilma hat die Angewohnheit, auch auf längeren Strecken immer wieder zu hüpfen.«
Die Numminens blickten sich an und schwiegen beide.
Es hing in der Luft, das »Nein«, Kati Soisalo konnte es schon fast hören und seine niederschmetternde Wirkung spüren. »Haben Sie irgendetwas Besonderes bemerkt, etwas Auffälliges? In ihrer Art zu sprechen, in ihrem Aussehen …«
Eino Numminen räusperte sich. »Gesehen haben wir, dass dieses Kind wahrscheinlich Finnisch verstand. Warum hätte es uns sonst so aufmerksam zugehört? Und das Mädchen ist auch nicht ganz freiwillig mit diesem Serben hinausgegangen, es hat sich mächtig gesträubt, der Mann musste es aus dem Restaurant hinaustragen.«
Plötzlich schien Tuula Numminen etwas einzufallen. Sie steckte die Hand in die Tiefen ihrer Frisur und wickelte eine Haarsträhne um den Zeigefinger. »Das hat sie gemacht, während sie uns zuhörte. Es sah so aus, als würde sich das Mädchen an irgendetwas … erinnern.«
Die Freude war so groß und überwältigend, dass Kati Soisalo nach vorn sank. Vor Erleichterung war sie einen Augenblick wie gelähmt, das Herz wollte ihr fast zerspringen.
»Sie haben meine Vilma gesehen.«
***
Anders als die meisten Bewohner der südfranzösischen Gemeinden Chusclan und Codolet machten sich die Färsen der Rasse Montbéliarde auf der Weide am Rande des riesigen Industriekomplexes nicht die geringsten Sorgen wegen der Ereignisse in ihrer Umgebung. Sie fraßen Gras, käuten wieder, tranken Wasser aus einer alten Badewanne, schliefen, fraßen Gras, käuten wieder und trotteten zuweilen einer Artgenossin hinterher, die eine Glocke um den Hals trug, oder der Bäuerin, wenn die auf der Weide erschien.
Neben den Kühen und Rotweingütern, die zu den besten der Welt zählten, gab es in der Region Côtes-du-Rhône auch ein Kernkraftwerksgelände des französischen
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