Weiss
Angst. Gerade als sie einen Fuß auf den Boden setzen wollte, erblickte sie einen langen Kerl mit Bart, der in der Ecke hockte – ein Wächter. Sie zog sich aufs Bett zurück, schob ihren Kopf jedoch über den Rand, um besser sehen zu können.
Je mehr Sabrina Pianini um sich herum erkannte, umso bedrückter fühlte sie sich. Zwei höchstens zehn Jahre alte, völlig verdreckte Mädchen umarmten einander und weinten so leise, dass man es kaum hörte. Ein magerer Junge schaute zum Wächter hin und schien zu zögern, dann wagte er es doch aufzustehen und kauerte sich in die Ecke. Jetzt bemerkte Sabrina Pianini den Abortkübel. Doch der war nicht die einzige Quelle des Gestanks in dem engen Raum, es sah so aus, als hätten sich die Kinder seit Tagen nicht gewaschen. Ihre Angst und ihre Not konnte man spüren, sie legte sich wie eine dicke, unsichtbare Folie über Sabrina Pianini. Ihr war übel. Sie versuchte nicht daran zu denken, wie furchtbar das Leid sein musste, das diese Kinder gerade erlebten. Und ihre Eltern.
»Mua më quajnë Afërdita.«
Die geflüsterten Worte waren so nah an ihrem Ohr zu hören, dass sie zusammenzuckte. Sie stützte sich auf den Ellenbogen, hob den Kopf und sah ein kleines, vielleicht sechsjähriges Mädchen, das sie anlächelte, obwohl die Tränen Spuren auf ihrem schmutzigen Gesicht hinterlassen hatten.
»Si jeni, si te quajnë?«
, fragte das Mädchen und schien eine Antwort zu erwarten.
Sabrina Pianini war dem Weinen nahe, unterdrückte es aber und zwang sich zu lächeln. »Ich verstehe nicht, was du sagst«, antwortete sie in ihrer Muttersprache so liebevoll wie möglich, sie streichelte die Hand des Kindes und hob ihre Decke ein wenig hoch. Afërdita kuschelte sich an ihre Schulter und umarmte sie.
»Mi chiamo Afërdita«,
sagte sie zu Sabrina Pianinis Überraschung in einem holprigen Italienisch.
Das Mädchen raunte ihr Worte ins Ohr, Sabrina Pianini verstand nur einen Teil: Männer, Zuhause, weggebracht, dunkler, enger Raum, geschlagen, man darf nicht weinen … Mutter.
Plötzlich blendete sie das grelle Licht einer Taschenlampe, der Bärtige stand vor Sabrina Pianini, zerrte Afërdita unter der Decke hervor, riss sie auf den Fußboden und bückte sich dann so weit nach vorn, dass er mit seinem Gesicht fast Sabrina Pianinis Ohr berührte. Er knurrte etwas in einer Sprache voller Konsonanten, von der sie kein Wort verstand. Sie wagte es nicht, sich zu wehren, als der Mann ihr die Fuß- und Handgelenke fesselte und ein dickes, festes Stück Klebeband auf den Mund drückte.
Dann richtete er sich auf, hielt eine Injektionsspritze gegen das Licht und sprühte etwas Flüssigkeit in die Luft. Er beugte sich über das Mädchen, stach die Nadel in die Vene am Arm und ging zum nächsten Kind …
Was hatte man mit ihr vor? Der Mann spritzte alle Gefangenen mit derselben schmutzigen Nadel, würde sie an der Injektion sterben oder an den Krankheiten, die mit der Nadel übertragen wurden?
Schließlich blieb der Bärtige vor ihr stehen. Das alles musste mit ihrem Forschungsprojekt, der DARPA und dem Pentagon zusammenhängen. Wie viel Zeit hatte sie hier schon herumgelegen, wie lange würde die Fahrt noch dauern? Sie musste am Mittwoch in Florenz bei ihrem Bruder sein.
Es tat weh, als die Nadel in ihre Armbeuge stach. Die Wirkung setzte sofort ein. O Gott, wie fühlte sie sich auf einmal, so wunderbar war noch nie irgendetwas gewesen, Hunger und Schmerz verschwanden, und alle Wünsche und Ängste auch, sie schwebte auf einer Wolke. Sabrina Pianini dachte an ihren Bruder Guido, der ohne neue Niere sterben würde. Ohne ihre Niere, die sie spenden wollte, deswegen war sie nach Italien gekommen. Dochgerade jetzt, in diesem Augenblick, war sie nicht fähig, Trauer oder Sorge zu empfinden.
***
Kati Soisalo lief durch den Park Kalemegdan am Fuße der alten Belgrader Festung, schaute zur Donau und Save hinunter und hörte der Reiseführerin einer englischen Touristengruppe zu. Diesen ältesten Teil Belgrads hatten angeblich einst die Kelten, Römer, Goten, Hunnen, Oströmer, Ungarn, Bulgaren, Ottomanen und schließlich die Serben beherrscht. Dann blieb die Führerin stehen und erzählte von dem Ort, an dem Truppen Österreich-Ungarns nach dem Attentat der serbischen Organisation »Schwarze Hand« auf den Kronprinzen Franz Ferdinand 1914 in Sarajevo Schüsse abgegeben hatten, die mit den Beginn des Ersten Weltkriegs markierten. Die Geschichte Belgrads interessierte Kati Soisalo freilich nicht im
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