Weiss
Atomenergiekommissariats. Auf dem riesigen, zweihundertachtundsiebzig Hektar großen Industrieareal von Marcoule war gegenwärtig statt der Kernreaktoren ein Druckwasserreaktor in Betrieb, der Tritium erzeugte. Außerdem befanden sich hier mehrere Forschungszentren sowie Anlagen für die Wiederaufbereitung und Lagerung von Atommüll, in denen jährlich über zehntausend Tonnen Plutonium eintrafen, das für die Herstellung von Kernwaffen geeignet war. Der Angriff auf Marcoule erfolgte um 23.33 Uhr.
An den Lagerhallen auf dem Gelände des Energiekonzerns Areva im Südteil des Areals erloschen auf einen Schlag alle Lampen der Außenbeleuchtung. Niemand sah, wie zwanzig Männer in schwarzen Kampfanzügen mit dem Lift aus dem unterirdischen Tunnelsystem hinauf in die Innenräume des STEL-Gebäu des fuhren. Der Leiter des Kommandos, Manas, schaltete das taktische Licht seines Sturmgewehrs an, ging zu einer Stahltür, tippte einen sechsstelligen Code in das digitale Kombinationsschloss ein und machte einen Schritt zur Seite, als sich die strahlensichere Drucktür öffnete.
Die neunzehn Männer betraten den Lagerraum, und jeder von ihnen nahm zwei Stahlbehälter, die jeweils elf Kilo und siebenhundert Gramm wogen. Die zwei ersten Eindringlinge hatten mitihrer Last den Raum schon verlassen, als Manas plötzlich den Befehl gab, stehen zu bleiben. Er hatte etwas gehört, lief rasch zum Aufzug und lauschte einen Augenblick, dann wies der breitschultrige Kirgise seine Männer an weiterzumachen.
Als sich die Diebe mit achtunddreißig Stahlbehältern und knapp vierhundert Kilo Iridium und anderen Elementen in den Fahrstuhl gezwängt hatten, drückte Manas den Knopf, und die Einbrecher fuhren tief hinunter in das weitverzweigte Tunnelsystem unter Marcoule. Vierzehn Minuten und acht Sekunden später stiegen sie außerhalb des Kernkraftwerksgeländes auf der nächtlichen Rue Chemin de la Mode aus der Kanalisation und liefen rasch zu ihrem Lkw, der in einem Wäldchen wartete. Der Anschlag war wie geplant verlaufen und perfekt gelungen. Dachte Manas.
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Kati Soisalo saß in einem schäbigen Büro im Gebäudekomplex des serbischen Innenministeriums in der Ulica Kneza Miloša 101. Der finnischen Botschaft in Belgrad war es gelungen, für sie ein Treffen mit Vertretern der serbischen Polizei zu organisieren. Dragoslav Marković, der stellvertretende Leiter des Polizeidirektorats, sprach über die Balkan-Route der Menschenhändler, und Kommissarin Jovana Ćebić von der UBPOK, der Abteilung zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität, machte den Eindruck, als würde sie gern Kati Soisalos Hand halten.
»Déjà vu«, dachte Kati Soisalo. Sie war so wütend, dass sie am liebsten laut geschrien hätte. Lang und breit herumreden, darauf verstanden sich die Vertreter der Behörden, aber in der Zwischenzeit entfernten sich die Entführer mit Vilma immer weiter von Belgrad. Es würde genau so kommen wie vor drei Jahren in Dubrovnik. Damals hatte es über ein Jahr gedauert, bis sie nach Vilmas Verschwinden wieder im normalen Leben Fuß gefasst hatte. Doch nun spürte sie erneut diese panische Angst, schon seit sieerfahren hatte, dass Vilma lebte. Ihr schwirrten tausend Gedanken durch den Kopf.
So gut wie alles, was der stellvertretende Polizeidirektor Marković erzählte, wusste sie längst. Als sie nach Vilmas Verschwinden wieder so weit auf dem Posten war, dass sie arbeiten konnte, hatte sie sich mit dem internationalen Kinder- und Menschenhandel beschäftigt, und zwar systematisch und akribisch, wie es sich für eine Juristin gehörte. In Europa verschwanden jedes Jahr etwa einhundertfünfzigtausend, in den USA achthunderttausend, in Indien fünfundvierzigtausend Kinder und in China schätzungsweise eine Million Mädchen. Jährlich wurden bis zu vier Millionen Menschen über Ländergrenzen geschmuggelt und gezwungen, entweder zu arbeiten oder als Sexsklaven zu dienen. Die Kriminellen strichen jedes Jahr durch die Zwangsarbeit ihrer Opfer und den sexuellen Missbrauch von Frauen und Kindern hunderte Millionen Euro Gewinn ein. Der größte Teil dieser Verbrechen wurde in den Industrieländern begangen, unter den Augen der ganz normalen, gesetzestreuen Bürger. Der Menschenhandel war laut UNO nun schon einträglicher als der Drogen- oder Waffenhandel. Dass hinter einem derart gewinnbringenden Geschäft die organisierte Kriminalität steckte, wie Marković mehrmals betonte, hatte Kati Soisalo auch schon vorher gewusst. Jeder konnte sich
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