Weiss
elektronischen Geräten, darunter etliche, die sie überhaupt nicht kannte. War das da auf dem großen Flüssigkristallmonitor das Bild eines Teilchenbeschleunigers?
Durch die riesigen Fenster der Halle sah sie die ersten Sonnenstrahlen, seit auf der Via Bellavista in Barga um sie herum alles dunkel geworden war. Das Forschungszentrum umgab eine mehrere hundert Meter breite, kahlgeschlagene Sicherheitszone, die an einem hohen Maschendrahtzaun mit Stacheldraht endete. Aus dem dahinter erkennbaren Kiefernwald konnte man nur den Schluss ziehen, dass sie sich jetzt wahrscheinlich weiter nördlich befand als zum Zeitpunkt ihrer Entführung. Doch das half ihr auch nicht viel weiter, möglicherweise war sie also in Norwegen, es konnte aber genauso gut Polen sein.
Wie sollte sie fliehen? Nach ihren Berechnungen war jetzt Mittwoch, sie müsste eigentlich schon in Florenz sein. Wie viele Tage blieben Guido noch, zwei, drei, fünf …? Einen neuen Spender einer Niere würde das Krankenhaus auf keinen Fall rechtzeitig finden, deshalb hatte man sie ja nach Italien eingeflogen. Guido wartete schon seit über einem Jahr auf eine neue Niere. Die Ärztehatten sie in den USA alarmiert und um Hilfe gebeten, nachdem sich vor einer Woche sein Zustand dramatisch verschlechtert hatte. Sie war Guidos einzige Chance. Es tat weh, wenn sie an ihren Bruder dachte. Als dann noch das Bild des kleinen verweinten, aber lächelnden Mädchens vor ihr auftauchte, wie es in der stickigen Gefangenenzelle des Lastzuges etwas in ihr Ohr flüsterte, hatte sie das Gefühl, jeden Moment zusammenzubrechen. Afërdita. Wer würde diesen Kindern helfen?
Sabrina Pianini fiel ein Film ein, den sie kürzlich gesehen hatte. Darin ging es um einen Politiker, der sich vor etwa zweihundert Jahren gegen den von Großbritannien betriebenen Sklavenhandel eingesetzt hatte. Früher waren die Sklaven unter unmenschlichen, entsetzlichen Bedingungen auf Schiffen von Afrika nach Westindien verfrachtet worden, heute transportierte man die Sklaven mit Lastkraftwagen quer durch Europa. Manche Dinge änderten sich im Laufe der Jahrhunderte überraschend wenig.
Plötzlich öffnete sich die Schiebetür des Raumes, ein Mann in weißem Kittel trat ein und reichte ihr die Hand.
»Nun sehen wir uns also wieder. Sie erinnern sich gewiss noch an mich, ich bin Doktor Andrej Rostow. Willkommen in meinem Forschungsinstitut. Ist hier alles soweit in Ordnung? Man sagte mir, dass Sie schon etwas zu essen bekommen haben.«
Sabrina Pianini war verblüfft. Vor ihr stand der Mann, der sie zu Weihnachten in Barga besucht und ihr Arbeit angeboten hatte. Ein Mann, der das ganze Zimmer auszufüllen schien. In seinem Wesen lag etwas Dominantes, etwas, das sich nicht erklären oder beschreiben ließ –
je ne sais quoi
, wie die Franzosen sagten. Eins achtzig groß, altersbedingt weißhaarig, wachsame und klare Augen, eingefasst von einer Brille mit Metallgestell, eine hohe Stirn und eine Figur, die sicher auch die meisten Vierzigjährigen gern gehabt hätten. Der Mann war irgendwie … anders.
»Spielen Sie Schach?«, fragte Doktor Rostow.
Sabrina Pianini schüttelte den Kopf.
»Ärgerlich. Nach meiner Erfahrung ist das Schachspiel eine ausgezeichnete Methode, sich kennenzulernen. Beim Spielen verrät man ungewollt oft mehr von sich selbst, von seiner Intelligenz und seinem Charakter, ob man aggressiv oder vorsichtig ist, tollkühn oder besonnen …«
»Der Mann artikuliert sein Englisch sehr akkurat, fast wie ein geborener Brite der Upperclass«, dachte Sabrina Pianini und machte endlich den Mund auf: »Man hat mich gekidnappt und mit Drogen betäubt, und Sie fragen, ob ich Schach spiele.«
Doktor Rostow verzog den Mund. »Ich bitte um Entschuldigung dafür, wie man Sie behandelt hat, aber wir waren gezwungen, rigorose Maßnahmen zu ergreifen. Ihr Vertrag mit der Universität von Pennsylvania, der DARPA und Spacetech Ltd. gilt noch Jahre, und Sie sind nicht bereit gewesen, sich uns auf dem Wege einer gütlichen Einigung anzuschließen, obwohl wir Ihnen ein Honorar in astronomischer Höhe angeboten haben. Übrigens sind Sie die einzige Wissenschaftlerin, die ich persönlich aufgesucht habe, um sie für die Arbeit bei uns zu gewinnen. Ihre Rolle in unserem Forschungsprojekt wird bedeutend sein, schließlich wissen Sie so gut wie alles über die Verwendung von Iridiumkatalysatoren in Treibstoffen. Wir können unsere Mitarbeiter nicht auf die herkömmliche Weise über Anzeigen rekrutieren, in der
Weitere Kostenlose Bücher