Weiss
Luft drückend. Kati Soisalo trank Eiskaffee und dachte über ihre Lage nach. Sie hatte alles in ihren Kräften Stehende getan, doch Vilma entfernte sich immer weiter von ihr. Wiederholte Besuche bei den Behörden brachten anscheinend nichts. Was sie sehen wollte, waren Straßensperren, Polizeistreifen, Vilmas Fotos in den Zeitungen und an Häuserwänden. Es war frustrierend, hier herumsitzen zu müssen, denn sie wünschte sich nichts sehnlicher, als etwas zu tun, das half, Vilma zu finden.
Das Geschrei von Kindern, die auf der Skadarska-Straße spielten,weckte ihre Aufmerksamkeit. Eine Gruppe von Mädchen spielte »Himmel und Hölle«, dabei trällerten sie einen Kinderreim und brachen ein ums andere Mal in Gelächter aus. Ein Mädchen in einem geblümten Kleid war kleiner als die anderen, es stand etwas abseits und leckte hingebungsvoll ein Eis. Ein paar Meter entfernt kauerte eine Schar von Jungen auf dem Pflaster und spielte irgendetwas; Kati Soisalo konnte nicht erkennen, ob sie Münzen, Würfel, Murmeln oder Steine warfen.
Ihr Magen knurrte, kein Wunder, sie wusste nicht mehr, wann sie das letzte Mal richtig gegessen hatte. Rasch winkte sie den Kellner heran, der mit einem weiblichen Gast flirtete, und bestellte einen Hamburger und Eiswasser. Sie hatte keine Lust, erst in der Speisekarte zu blättern.
Die hüpfenden Mädchen waren ein paar Meter näher gerückt und riefen jetzt ihren Reim noch lauter. Kati Soisalo schaute zu, wie sie abwechselnd an der Reihe waren und mit gestreckten Beinen weite Sprünge machten. Ihr Blick blieb am Haar und Nacken eines Mädchens in einem hellen Sommerkleid hängen, das gebückt dastand, mit dem Rücken zu ihr.
Der Kellner brachte lächelnd ihr Essen und das Eiswasser, sie bedankte sich und biss lustlos in den lauwarmen Hamburger. Im selben Augenblick rückte das Mädchen in der Schlange weiter vor und wandte Kati Soisalo sein ebenmäßiges Gesicht zu, das von blonden Haaren umrahmt wurde. Es wickelte eine Locke um den Finger und spitzte dabei die Lippen. Kati Soisalo schloss die Augen, atmete tief durch und schaute wieder hin. Die Entfernung zwischen ihnen betrug kaum zehn Meter. Sie war sich vollkommen sicher, das musste Vilma sein.
Kati Soisalo erhob sich, den Blick auf das Mädchen geheftet, aus Angst, es könnte verschwinden, wenn sie nur zwinkerte. Die Zeit blieb stehen, sie fühlte nicht den Drang, vor Freude zu schreien, sie war ganz ruhig und wollte nur eins, Vilma in die Arme schließen und den jahrelangen Alptraum beenden.
Vorsichtig legte sie eine Hand auf die Schulter des Mädchens und kniete vor ihm nieder, sie schaute in die vertrauten blauen Augen, wäre fast in ihnen ertrunken und sagte immer wieder Vilmas Namen. Eines der Kinder bemerkte sie, verstummte und kam näher. Die anderen Mädchen folgten seinem Beispiel und schließlich auch die Jungen.
Kati Soisalo war schockiert. Erkannte Vilma sie denn wirklich nicht? Jetzt musste sie einen kühlen Kopf bewahren, drei Jahre waren für ein kleines Kind eine ungeheuer lange Zeit. Wer weiß, was man mit dem Mädchen gemacht hatte. Das Wort Mutter jetzt auszusprechen würde das Mädchen möglicherweise aus der Fassung bringen. »Du erinnerst dich doch an mich, Vilma?«
Im Blick des Mädchens lagen Neugier, Verwirrung und auch ein wenig Angst, als es etwas auf Serbisch antwortete.
Kati Soisalo legte auch ihre andere Hand auf die Schultern des Kindes, doch das war zu viel, das Mädchen trat einen Schritt zurück und zeigte nun noch mehr Zurückhaltung.
»Du hast mich vergessen, es ist seitdem so viel Zeit vergangen. Aber Finnisch verstehst du sicher immer noch. Du wirst dich bestimmt wieder an alles erinnern, sei ganz unbesorgt.« Kati Soisalo redete so beherrscht und besonnen wie möglich, obwohl die Gefühle, die in ihr tobten, sie fast erdrückten.
Das Mädchen trat einen weiteren Schritt zurück, und Kati Soisalo bemerkte nicht, dass einer der Jungen zu einem Tisch ging, um seinen Vater zu holen. Sie betrachtete Vilma, dem Mädchen schien es ausgezeichnet zu gehen, Gott sei Dank. Allerdings war die Haut über den Backenknochen durch die Sonne gerötet und anscheinend auch zu trocken, sie müsste eingecremt werden. Vilmas Ohrläppchen wirkten größer als früher, und an ihrem Kinn war ein Leberfleck aufgetaucht. War es möglich, dass ihre Tochter die finnische Sprache gänzlich vergessen hatte? Sollte sie es wagen, ihr zu sagen, dass sie seine Mutter war? Womöglich wäre das ein zu großer Schock für
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