Weiss
Die beiden Männer warteten auf sie. Sie drehte den Griff noch einmal und erlebte wieder eine herbe Enttäuschung, denn am Ende des Flures erblickte sie einen Spiegel mit Werbung – keine Tür.
In ihr Hotelzimmer würde sie nicht gehen, also blieb nur eine Alternative übrig. Sie atmete tief durch, holte das Handy aus der Tasche und redete beim Verlassen der Toilette laut Finnisch mit einem imaginären Gesprächspartner. Als sie an den Männern von Bojanić vorbeiging, überkam sie der dringende Wunsch loszurennen, aber sie schaffte es, sich zu beherrschen. Die beiden wussten nicht, dass man sie gewarnt hatte, sie wollten ihr garantiert folgen, bis der geeignete Augenblick kam.
Kati Soisalo lief durch das Foyer, trat hinaus auf den Terazije-Platz und wandte sich nach rechts. Sie wusste schon, wohin sie versuchen würde zu fliehen, der Ort lag ganz in der Nähe. Doch in ihr kroch die Angst hoch, die Männer könnten sie jetzt gleich ergreifen, auf der belebten Straße. Verstohlen schaute sie sich um. Ein schwarzer Porsche Cayenne mit getönten Scheiben fuhr hinter ihr so langsam, dass jemand hupte, und auch die Männer, die ihr zu Fuß folgten, machten sich nicht die Mühe, besonders unauffällig zu bleiben. Allmählich beschleunigte sie ihr Tempo, bis sie im Laufschritt den Eingang des Einkaufszentrums Čumićevo Sokače erreichte.
In dem Augenblick, als die Sichtverbindung zu den Männern abbrach, rannte Kati Soisalo los, ohne eine Ahnung zu haben, wohin sie laufen sollte. Das Center hatte sie nur von außen, vom Taxi aus, gesehen. Sie steuerte die Stelle an, wo das Gedränge am größten zu sein schien, Gott sei Dank war das Čumićevo Sokače ein chaotisches Labyrinth von Läden, Treppen und Gängen.
Sie schaute sich um: Die Verfolger waren nicht zu sehen, aber der Tumult und die taumelnden Gestalten weit hinter ihr verrieten, dass sich da jemand rücksichtslos einen Weg durch die Menschenmenge bahnte.
Die Schuhe rieben und die Füße schmerzten, als Kati Soisalo all ihre Kräfte mobilisierte, um noch schneller zu rennen, ihre Schritte hämmerten auf den Steinplatten, die Schultertasche schlug gegen die Rippen und die Angst packte immer fester zu. Das Einkaufszentrum war wie ein Irrgarten, wo zum Teufel kam man hier hinaus, der Zeitpunkt wäre günstig, sie sah hinter sich keinen einzigen Verfolger …
Urplötzlich tauchte der Fußweg einer Straße vor ihr auf, sie war so überrascht, dass sie mit einem Mann zusammenstieß, der sein Fahrrad schob und hinstürzte. Beide entschuldigten sich hastig, der eine auf Serbisch, die andere auf Finnisch. Kati Soisalo sah sich rasch um. In dieser Gegend war sie vorher noch nicht gewesen. Den schwarzen Porsche konnte sie nirgendwo entdecken, und auch keine Verfolger. In welche Richtung sollte sie fliehen …?
Kati Soisalo beschleunigte ihre Schritte und ließ sich von ihrem Orientierungssinn leiten, ihr Gehirn lief auf Hochtouren. Jetzt musste sie ein Taxi finden und zum Flughafen fahren, dort würde es selbst Bojanić nicht wagen, sie anzugreifen, obwohl er ein Verrückter war.
Sie hörte hinter sich einen wütenden Ausruf, wandte den Kopf und erblickte einen Mann, der einem langen Kerl mit der Faust hinterherdrohte – einer der Männer von Bojanić raste den Fußweg entlang! Sie musste die Sichtverbindung unterbrechen, die Männer durften nicht wissen, in welches Taxi sie stieg.
Kati Soisalo bog an der nächsten Straßenecke ab und fluchte laut, weil sie an ihren Ausgangspunkt zurückgekehrt war, vor ihr lagen der Terazije-Platz und der Nikola-Pašić-Platz. Sie rannte, was die Beine hergaben, das würde kein glückliches Ende nehmen. Dann sah sie vor dem Springbrunnen einen jungen Mann im Sattel eines Motorrads und warf einen Blick nach hinten. Ihr blieb vielleicht eine halbe Minute, höchstens.
Im Laufen griff sie in ihre Handtasche und holte alle Geldscheine heraus, die sie besaß. Dann blieb sie keuchend vor demMotorrad stehen, öffnete das Helmvisier des jungen Mannes und drückte ihm das Bündel Geldscheine in die Hand. »Fahr mich zum Flughafen!«
Der verdutzte Mann leckte über sein Lippenpiercing, starrte auf seine Hand voller Dinare und Euros und bemerkte dann den Verfolger, der rasch näher kam.
Das Motorrad heulte auf und Kati Soisalo setzte sich hinter den Fahrer. Auch ohne den heftigen Wind, der ihr in die Augen blies, hätte sie geweint, schon das zweite Mal in ihrem Leben ließ sie ihre Tochter allein in einem fremden Land zurück.
***
Der Lkw
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