Weiss
überprüft hatten, winkten in Richtung Wache, und Luke kletterte in die Fahrerkabine, gefolgt von dem Abteilungsleiter. Fletcher schaute den Mann in der Hoffnung an, wenigstens so etwas Ähnliches wie eine Erklärung für diese außergewöhnlichen Regelungen zu erhalten. Vergeblich.
»Alles ist vorbereitet. Dann wollen wir die Sache rasch hinter uns bringen«, sagte der Sellafield-Mitarbeiter mit angespannter Miene und deutete hektisch auf das riesige Gelände von Sellafield, das vor ihnen lag.
Fletcher zögerte nur ein oder zwei Sekunden. Die Neugier plagte ihn noch stärker als vorher, aber die Papiere waren in Ordnung, und der Abteilungsleiter würde beim Beladen helfen. Er konnte nichts anderes tun, als Gas zu geben. Der Mann gab ihm Anweisungen, wie er fahren sollte, und Fletcher lenkte den Wagendurch die Straßen von Sellafield, das die Ausmaße einer kleinen Stadt hatte.
Der Lkw erreichte einen Platz umgeben von großen Gebäuden, und Fletcher lauschte angestrengt: Das war der Rotor eines Hubschraubers, das Geräusch wurde schnell lauter. Plötzlich traf ein grelles Licht das Auto und blendete ihn so, dass er die Augen schließen und auf die Bremse treten musste. Der Laster kam zum Stehen und wurde dabei kräftig durchgeschüttelt. Luke und der Abteilungsleiter schrien auf, doch ihre Rufe wurden von dem Lärm übertönt, der von draußen hereindrang.
Fletcher wollte seinen Augen nicht trauen, hol’s der Teufel, er sollte sich als Hellseher im Tivoli oder als Wettermann beim Fernsehen engagieren lassen. Er hatte geahnt, dass irgendetwas Merkwürdiges im Gange war. Scheinwerfer beleuchteten das Industriegelände wie einen Weihnachtsbaum, ein Hubschrauber der Civil Nuclear Police ratterte fünfzig Meter vor dem Laster in der Luft und ein zweiter lärmte hinter dem Wagen. Neben ihnen standen schon zwei Polizeiwagen, und noch mehr Bullen kamen mit Sirenengeheul aus allen Richtungen.
»Was für ein Auftrag ist das, verdammt?«, konnte Fletcher den Abteilungsleiter noch fragen, bevor das Lenkrad, das er festhielt, durch die Wucht einer Explosion in die Luft flog und der Platz in ein Flammenmeer verwandelt wurde.
ZWEITER TEIL
Die Ritter von Marx
13. August – 15. August
8
Freitag, 13. August
Kati Soisalo schlug mit der Faust so heftig gegen den Kleiderschrank in ihrem Büro, dass sie sich die Haut an den Knöcheln abschürfte. Hass und Selbstverachtung quälten sie, obwohl ihr die Fakten natürlich bekannt waren: In Belgrad hätten die Leute von Bogdan Bojanić sie zusammengeschlagen oder umgebracht. Sie hatte in Serbien alles in ihren Kräften Stehende getan, um Vilma zu finden, und die anonyme Anruferin hatte ihr geraten, die Verbindungen zu untersuchen, die Dimitri Arbuzow, der Geschäftspartner von Bojanić, nach Finnland unterhielt. Das waren zwar unumstößliche Fakten, aber das half ihr auch nicht weiter, sie empfand die Rückkehr nach Finnland dessen ungeachtet als schlimmen Verrat an Vilma. Die bedauernswerten Kinder auf den Plakaten des Kinderschutzbundes und von Amnesty, ECPAT und Unicef schauten sie vorwurfsvoll an.
Wütend versetzte sie ihrem Schreibtischsessel einen Tritt, er rollte in Richtung Bücherschrank und schlug die Scheibe der Tür ein. Diesmal wollte sie das Spiel bis zum Ende durchziehen, sie würde herausfinden, wer für Vilmas Verschwinden verantwortlich war, koste es, was es wolle. Und jetzt würde sie sich nicht an die Regeln halten, die hatte sie nicht aufgestellt. Wenn sie die Regeln befolgte, würde sie nur den Kürzeren ziehen. Sie beugte sich vor, um in ihrem Schreibtischkalender die Telefonnummer des Helsinki Shooting Club zu suchen, und wünschte sich fast, dass sie in der nächsten Zeit gezwungen wäre, ihre Schießkünste anzuwenden. Kati Soisalo konnte sich nicht erinnern, jemals solch eine Wut empfunden zu haben, nicht einmal in Dubrovnik vordrei Jahren. Was ging in ihr eigentlich vor? War der Zwischenfall auf der Skadarska-Straße ein Anzeichen dafür, dass sie allmählich den Verstand verlor? Wie zum Teufel konnte sie ein ihr völlig unbekanntes serbisches Mädchen für Vilma halten? Sie war nicht gerade in einem blendenden Zustand, sondern weit davon entfernt.
Jemand steckte den Schlüssel ins Schloss, öffnete die Tür der Kanzlei und hätte sich dafür keinen ungünstigeren Zeitpunkt aussuchen können. Kati Soisalo machte auf den Hacken kehrt und verpasste Jukka Ukkola, der auf der Schwelle stand, einen derart heftigen Schlag ins Gesicht, dass bei ihm die
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