Weiss
und ging zu seiner Bretterhütte, einem ehemaligen Wirtschaftsgebäude. Rostows Brutalität war allen bekannt: Andrej Rostow hatte Karas Mutter im Park Royal hingerichtet, ohne mit der Wimper zu zucken, er ließ in seinen Forschungsinstituten Menschenversuche durchführen und gab den Befehl zur Ermordung von Wissenschaftlern, die zu einer Gefahr für seine Ziele wurden oder überflüssig waren, weil er sie nicht mehr brauchte. Rostow war ein äußerst interessantes Individuum, ein wahrhaft grausamer Mensch.
In seiner Hütte ließ sich Manas der Länge nach auf das Feldbett fallen, schloss die Augen und rekapitulierte das Gespräch mit Rostow. Er war dem Gefühl der Verärgerung sehr nahe gewesen, als Rostow starrsinnig verboten hatte, Kara zu töten. Und er hatte auch einen anderen wichtigen Moment erkannt: Wenn er die Fähigkeit zu fühlen besäße, wäre er bei Rostows Worten
»die Verantwortung für Leo Kara lag bei dir«
wütend geworden. Das war eindeutig ein Vorwurf gewesen. Manas hatte auch den Augenblick verpasst, in dem er mit einem Achselzucken hätte lachen müssen.
Und jetzt müsste er Freude empfinden, auch das war ihm klar. Freude über seine enormen Fortschritte, seit er zielstrebig begonnenhatte, das Fühlen zu lernen. Alle ihm zugänglichen Fachbücher über Gefühle und das Fühlen hatte er gelesen, doch am meisten gelernt hatte er aus zwei Büchern. Zum einen »Das emotionale Hirn« von Joseph E. LeDoux. Der Mann war ein unvergleichlicher Fachmann auf dem Gebiet der Mechanismen der Angst. Das andere war der Roman »David Copperfield« von Charles Dickens. Darin wurde von einem Jungen erzählt, der wie er selbst ohne Vater aufwuchs und von der Mutter auf eine Internatsschule geschickt wurde. Sollte etwas eines Tages bei ihm eine Gefühlsreaktion auslösen, dann war es diese Geschichte. Bis zu einem Durchbruch fehlte nicht mehr viel. Er hatte soeben im Verhalten von Andrej Rostow Furcht erkannt; der Doktor hatte Angst vor Leo Kara, oder vielleicht davor, woran Kara sich erinnern konnte.
***
Kati Soisalo saß im Medizinischen Zentrum von Eira im Sprechzimmer der Fachärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe Charlotta Widman-Lahti und fühlte sich sowohl erleichtert als auch angespannt. Endlich würde sie erfahren, was ihr fehlte.
»Aufgrund der Ergebnisse der Laparoskopie …, also der Endoskopie der Bauchhöhle, ist die Diagnose eindeutig, du leidest an einer Endometriose. Das bedeutet, Gebärmutterschleimhaut tritt auch außerhalb der Gebärmutter auf. Du hast solche Schleimhautherde sowohl in den Eileitern als auch im Bauchfell.«
»Und das ist die Erklärung für die furchtbaren Regelschmerzen der letzten Zeit?«, fragte Kati Soisalo.
Die Ärztin nickte. »Wenn diese überflüssige Schleimhaut dicker wird, führt das zu einem ständigen Druck auf die Eileiter und die Bauchhöhle. Das Blut aus den Schleimhäuten kann nicht abfließen, sondern staut sich in den Hohlräumen.«
»Und was passiert nun? Kann das heilen?«
»In deinen Eileitern haben sich leider schon Endometrioseherdegebildet, sogar eine Zyste. Lebst du in einer Partnerbeziehung, gibt es …«
»Was zum Teufel hat das damit zu tun?«, fragte Kati Soisalo erbost.
»Entschuldigung. Ich wollte mich nur erkundigen, ob du daran gedacht hast, weitere Kinder zu bekommen. Deine Krankheit hat leider schon so viel Schaden angerichtet, dass es unter Umständen schwierig sein könnte, schwanger zu werden. Solltest du derzeit gerade versuchen, ein Kind zu bekommen, kann ich dir keine Gelbkörperhormonderivate verschreiben. In dem Falle ist die einzige Alternative eine Operation. Durch eine Entbindung kann die Endometriose übrigens sogar ganz verschwinden.«
Kati Soisalo schaute die Ärztin ungläubig an.
»Vielleicht möchtest du diese Informationen erst eine Weile verdauen, bevor du irgendwelche endgültigen Entscheidungen triffst«, schlug Charlotta Widman-Lahti vor und lächelte.
»Vielleicht«, antwortete Kati Soisalo und war nicht fähig, an etwas anderes zu denken als an Vilma und daran, wie klein Neugeborene waren. Sie konnte ihre Tochter damals im Handwaschbecken baden.
17
Samstag, 14. August
Vizechef Jukka Ukkola spürte im Beratungsraum »Walze« der Hauptabteilung der KRP, wie seine Angst zunahm. Die Ermittlungen zu den Ereignissen in Ylämaa waren völlig aus dem Ruder gelaufen: Der Chef der KRP Timo Neulamaa interessierte sich auf einmal für den Fall, er hatte eine Beratung einberufen, war selbst gekommen und hatte
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