Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
Vom Netzwerk:
nackte Panik, als in einem weiten Umkreis ein Loch nach dem nächsten ausgehoben wurde. Franz Lorenz kauerte auf einem Stein und vermochte nicht, das Schlottern seiner Knie und seiner Hände zu kontrollieren. Sein Gesicht war käsig, verfilzte Haarsträhnen hingen ihm in die Stirn.
    Als Matthias seinen Bruder in dieser Verfassung sah, ging er, den Spaten geschultert, zu ihm. Sein Gesicht war gerötet von der anstrengenden Arbeit, seine Hände waren erdverschmiert, seine Augen leuchteten. Ihm zumindest tat es gut, endlich arbeiten zu können.
    »Der Boden ist besser als vermutet«, sagte er zur Begrüßung. »Schau nur, Franz, fetter schwarzer Mutterboden befindet sich unter der obersten trockenen Schicht und dem Gras.« Er zerrieb ein paar dunkle Krümel zwischen den Fingern und ließ die Erde zu Boden rieseln. »Wenn wir uns geschickt anstellen, werden wir hier schon bald ertragreiche Ernten einfahren. Ich denke, wir fangen im Frühjahr, wenn wir die Äcker umgepflügt haben und die Saat ausbringen können, mit Weizen an.«
    Doch Franz schien ihn gar nicht zu hören, starrte nur mit weit aufgerissenen Augen vor sich hin. Seine Lippen bewegten sich, als würde er ein Gebet sprechen, aber kein Ton kam über sie.
    Matthias beugte sich zu ihm, legte ihm die kräftige Hand auf die Schulter. »He, Franz … Komm, hilf uns! Jeder wird jetzt gebraucht, bevor die ersten Fröste einsetzen und Schnee fällt.«
    »Die Erde tut sich auf, die Erde tut sich auf«, kam es heiser über Franz’ Lippen.
    »Was redest du da?«, fragte Matthias immer noch sanft. Er spürte, wie sehr das alles seinen Bruder belastete, wie dessen Seele litt, aber er würde doch am Ziel nicht noch den Verstand verlieren?
    Franz stierte seinen Bruder an. Matthias schluckte, als er die Leere in seinem Blick sah. »Mutter hatte recht«, flüsterte Franz. »Die Erde wird uns alle verschlingen. Wir heben unsere eigenen Gräber aus. Wie Todgeweihte lassen wir uns hinabführen, bevor uns die ewige Dunkelheit umhüllt. Mutter hat es vorhergesehen, Matthias, wir hätten auf sie hören müssen. Wir haben alles falsch angepackt …«
    Matthias rieb sich über Mund und Nase. Er warf den Spaten ins Gras, kniete sich vor Franz, packte ihn an den Schultern und zwang ihn, ihm ins Gesicht zu schauen. »Mutter hatte niemals recht, Franz. Sie ist ein altes, abergläubisches Weib, das uns das Leben zur Hölle gemacht hat und es immer noch tun würde, wenn wir nicht aufgebrochen wären. Ja, wir haben uns den Beginn des neuen Lebens hier alle anders ausgemalt, aber, Franz … wir werden es schaffen! Du mit Anja, ich mit … Christina, wir alle werden es schaffen! Wir werden hier nicht nur überleben, sondern so reich und glücklich werden, wie es sich Mutter niemals hätte vorstellen können. Sie sitzt zu Hause und flucht vor sich hin, aber wir, wir bauen unser eigenes Leben auf, wie du es geplant hast. Gib jetzt nicht auf, Franz! Wir alle brauchen dich.«
    Zu seiner Erleichterung bemerkte er, dass seine Worte tatsächlich zu dem Bruder vordrangen. Das Leben kehrte in Franz’ Augen zurück, und er blinzelte, als wäre er aus tiefem Schlaf erwacht. Er schüttelte sich wie ein nasser Hund, irritiert und orientierungslos, und rieb sich mit den Händen das Gesicht. »Es …« Er hüstelte. »Es ist gut, Matthias. Danke. Ich … ich weiß manchmal selbst nicht, was in mir vorgeht. Die Angst überfällt mich wie ein wildes Tier und lässt mich bibbern und zittern und faseln wie ein altes Weib.«
    Matthias zog ihn auf die Beine und umarmte ihn. »Es ist für uns alle nicht leicht«, sagte er dicht an seinem Ohr. Schließlich klopfte er ihm auf die Schulter, bückte sich und drückte ihm den Spaten in die Hand. »Jetzt komm!«

    Länger andauernde Dispute gab es unter den Kolonisten darüber, wer mit wem eine Erdhöhle bewohnen sollte. Anja hatte bereits mit Bernhard vereinbart, dass sie mit Lambert bei ihm, Marliese, Helmine und Alfons bleiben konnte. Für Franz war es keine Frage, dass er dazugehörte.
    »Meinetwegen musst du das nicht tun«, fuhr Anja ihn an. »Hättest du nicht bessere Unterhaltung bei deinem Bruder oder bei Anton von Kersen? Wie ich hörte, hat Letzterer den größten Teil seines restlichen Geldes den russischen Bauern für Wodka überlassen. Da fällt bestimmt diese oder jene Flasche für dich ab, wo du doch alles verschleudert hast.«
    »Ich bin kein Säufer«, erwiderte er. »Warum denkst du so von mir, Anja? Ja, es war dumm von mir, dass ich mein Geld

Weitere Kostenlose Bücher