Weiße Nächte, weites Land
mit beiden Händen aus dem Fenster geworfen habe. Willst du mir das ewig vorhalten?«
»Mir ist es völlig egal, wofür du dein Geld verprasst. Hör nur endlich auf zu jammern und pack mit an! Schau, wie die anderen Männer schuften! Und du? Liegst mir in den Ohren wie ein quengelndes Kleinkind mit nassen Windeln.«
Franz kam nicht mehr zu einer Erwiderung, die ihm auf der Zunge lag, denn von der Wagenburg her erklang ein markerschütternder Schrei: »Zur Hilfe! Oh, Herr im Himmel, so helft mir doch! Bitte, bitte, helft mir … helft mir …« Der Schrei ging in ein Wimmern und schließlich in ein lautes Schluchzen über.
Franz und Anja liefen wie alle anderen zu den Wagen, um zu sehen, was passiert war. Die Russen in den Löchern schaufelten stur und mit kräftigen Bewegungen weiter, als sei nichts geschehen.
Die Natur brachte es mit sich, dass Veronica die kleine Alexandra die meiste Zeit trug. Bei dem Namen war es geblieben, obwohl Eleonora ihre Schwester eindringlich beschworen hatte, selbst über einen nachzudenken. Vielleicht sollte sie der Mutter ein Andenken setzen und das Kind Theresa nennen? Oder der Großmutter? Irgendwem, den sie liebte? Aber Christina hatte nur den Mund verzogen und das Gesicht abgewandt. »Nennt sie, wie ihr wollt.«
»Manchmal benehmen sich Mütter eigenartig nach der Geburt«, bemerkte Anja schulterzuckend. »Das legt sich gewiss.«
Veronica hatte an Eleonoras Miene erkannt, dass diese nicht davon überzeugt war. Und nicht anders ging es ihr selbst. Eine so ablehnende Haltung hatte sie noch nie bei einer Mutter erlebt.
Alexandra hatte großen Hunger und tat dies mit einem so wütenden, durchdringenden Geschrei kund, dass es meilenweit zu hören war.
Alle zwei Stunden wollte sie angelegt werden. Danach wiegte Veronica das satte Neugeborene in den Armen, bis es eingeschlafen war.
Dann allerdings verlor Veronica, eingedenk der Worte von Anton von Kersen, keine Zeit mehr und übergab die Kleine ihrer Mutter.
Zwei Seelen kämpften in Veronicas Brust: Ihr Herz sagte ihr, dass sie die Kleine niemals mehr wieder hergeben und sie bei sich aufnehmen wollte, um ihr all die Zärtlichkeit zu schenken, die sie Frieda nicht mehr geben konnte.
Ein anderer Teil ihres Selbst aber mahnte, sie solle sich nicht zu sehr an dieses Kind gewöhnen. Christina, die Mutter, galt nicht ohne Grund als unberechenbar. Wer wusste schon vorherzusagen, ob sie nicht eines Tages doch ihre Mutterliebe entdecken und das fordern würde, was ihr gehörte? Wie sollte sie, Veronica, einen solchen zweiten Verlust verkraften? Alexandra dann herzugeben wäre nicht weniger schmerzhaft als Friedas Tod.
In diesem Streit der Gefühle war ihr Anton von Kersens Vorhaben wie eine Botschaft des Himmels erschienen. Sie wurde hier gebraucht, der Vorsteher schätzte ihre Fähigkeiten. Sie würde ihr Talent, mit Kindern umzugehen, und ihre Liebe zu diesen kleinen Würmern zum Nutzen der Gemeinschaft einbringen können. Wenn sie sich geschickt anstellte, bekam sie die Anerkennung, nach der sie sich sehnte. Ja, von Kersen hatte recht: Sie durfte sich nicht von einem einzigen Kind alle Kraft rauben lassen, und am Ende wäre sie doch die Verliererin gegen eine Frau wie Christina. Sie würde dieses Kind nähren und sein Überleben sichern – aber für alles andere wäre die Mutter zuständig.
Die ersten Male, als Veronica ihr wortlos das Kind in die Arme drückte, hatte Christina sie angeschaut, als handele es sich um eine Verwechslung. Sie hielt das Kind, wie eine andere vielleicht eine Katze getragen hätte. In ihrem Gesicht stand nichts als Verärgerung über diese Störung und Unwillen.
Es lag außerhalb von Veronicas Auffassungsvermögen, wie man sich als Mutter so verhalten konnte. Jedes Tier hatte doch den Instinkt in sich, sein Junges zu behüten, vor Gefahren zu bewahren und großzuziehen, bis es kräftig genug war, sich allein durchzubringen. Warum nicht ein äußerlich engelhaftes Geschöpf wie die Weberin?
Mit einem Stechen im Herzen sah Veronica zu, wie Christina das Kind ungelenk von einem Arm in den anderen nahm. Alexandra begann zu quäken, obwohl sie nach der Mahlzeit schläfrig und zufrieden sein sollte.
So hatte sie das Kind auch an diesem Nachmittag, als alle mit dem Bau der Erdhütten beschäftigt waren, an die leibliche Mutter übergeben und war zu ihrem Lager gegangen, um sich mit einem Kanten Brot und einem Becher Milch zu stärken, die sie frisch von den Russen erstanden hatte. Das Stillen zehrte an
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