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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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die Auswuchtung am Brustkorb sehen und den Puls im Hals fühlen konnte. Das würde eine schöne Sudelei werden.
    Mit der linken Hand drückte sie das Huhn auf den Klotz, mit der rechten hob sie das Hackbeil, um es einen Wimpernschlag später herabsauen zu lassen und den Kopf vom Leib zu trennen.
    Sie traf zielgenau, aber der Körper des Huhns glitt ihr wegen des heraussprudelnden Bluts aus der Hand, platschte zu Boden und taumelte, während der rote Lebenssaft aus dem durchtrennten Hals pulsierte, Richtung Scheunentür, als gäbe es noch ein Entkommen.
    Helmine warf das Beil neben sich, fuhr herum, wollte sich auf den zuckenden Hühnerkörper stürzen, da erstarrte sie, weil ein Schatten auf sie fiel. Eine riesige schwarze Silhouette im Gegenlicht der Spätsommersonne, die durch die halbgeöffnete Scheunentür ihre Strahlen schickte.
    Helmine ließ von dem Huhn ab, das nun liegen blieb und nur noch zuckte, während es ausblutete. Frostkälte breitete sich in ihr aus, während sie Alfons anstarrte.
    Ihr Bruder stand breitbeinig in schweren Stiefeln vor ihr, die Schultern vorgeneigt. Sein Brustkorb hob und senkte sich mit einem pfeifenden Geräusch beim schnellen Atmen. Sein Blick klebte an dem Huhn, während Tränen über seine Wangen rannen. Er schob die Unterlippe und den Unterkiefer vor, als er von dem toten Tier zu seiner Schwester schaute.
    Helmine drehte sich der Magen um, als sie der lodernde Hass in seinen Augen traf. Ihre Gedanken überschlugen sich, während sich ihre Furcht zu Todesangst steigerte. Sie ganz allein mit Alfons …
    Wie lange mochte er darauf gelauert haben, sie einmal in einer solchen Situation anzutreffen?
    Wo war das Beil?
    Sie wandte ruckartig den Kopf, entdeckte das Hackbeil viel zu weit hinter sich und setzte einen Schritt zurück, ohne Alfons aus den Augen zu lassen. Hinter ihm an der Wand stapelten sich die Zaunlatten, die Bernhard für den Obstgarten vorgesägt hatte … Ob sie die und die rettende Tür erreichen konnte?
    »Mine daff das nich«, gab Alfons in seinem Singsang von sich. Sein Gesicht verzog sich vor Weinen und Mitleid mit dem toten Tier. »Mine daff das nich.«
    Das Schlucken schmerzte. »Doch, Alfons …« Sie räusperte sich. »Doch, Alfons, das macht man so. Ich darf das, weil die Männer Hunger haben und eine Suppe brauchen. Eine gute Hühnersuppe.«
    »Mine schlaffen«, erwiderte Alfons. Ein zitteriges Lächeln, als freue er sich über eine plötzliche Eingebung, wanderte über seine verzerrten Züge. »Mine schlaffen.« Ohne hinzuschauen, griff er nach der Mistgabel, die neben der Tür lehnte.
    Helmines Kehle war wie mit Eisendraht verschnürt, die aufkommende Panik drohte ihren Schädel zum Bersten zu bringen.
    Was hatte dieser Wahnsinnige vor? Was faselte er da von Schlafen?
    Sie wich vor der Mistgabel zurück, bis sie gegen den Hackklotz stieß. Das Beil lag jetzt zu ihren Füßen. Sie brauchte sich nur zu bücken, aber Alfons stand nun direkt über ihr. Wenn sie sich abwandte, würde sie einen Atemzug später – ihrem letzten wahrscheinlich – die pfeilspitzen Zinken im Rücken spüren.
    Ihre Hände zitterten, ihre Knie vermochten sie kaum noch zu tragen, abwehrend hob sie die Arme. »Alfons, ich bin deine Schwester. Ich bereite Suppe vor. Dem Huhn hat das nicht weh getan. Das ging ganz schnell. Du magst doch die gute Hühnerbrühe …« Reden, reden, reden. Ihn ablenken und darauf hoffen, dass er in seinem verrückten Hirn entweder auf andere Gedanken kam oder dass ihr einfiel, wie sie aus der Scheune flüchten konnte.
    Alfons hob nun beide Arme, die Mistgabel wie einen Speer in der Rechten. Mal hob er das eine, mal das andere Knie in einem schwerfälligen Rhythmus, den nur er zu hören schien, während er auf eine alte Kindermelodie sang: »Mutta Vatta schlaffen macht, Vatta nimma auffewackt, Mutta Vatta schlaffen macht, Vatta nimma auffewackt …«
    Helmine hielt die Arme schützend vor das Gesicht, den Rücken gekrümmt, die Knie gebeugt, in Todesangst, während sie zu ihrem Bruder hinaufstarrte.
    Da stach er zu. Träge, aber mit enormer Wucht.
    Helmine gelang es, sich blitzschnell zur Seite zu drehen, und die Zinken der Mistgabel bohrten sich mit einem satten Ratschen in den Hackklotz. Helmine verlor das Gleichgewicht und fiel auf den Rücken, lag nun zu Füßen ihres Bruders, der die Mistgabel sofort wieder packte und löste, als stecke sie in einem Strohballen statt in massivem Holz.
    Er setzte seinen tollwütigen Tanz fort, während Helmine,

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