Weiße Nächte, weites Land
tausendmal, als Eleonora sie mit dem Vorwurf, sie habe nicht gut genug aufgepasst, konfrontierte. »Es geschieht immer aus heiterem Himmel«, klagte sie Eleonora. »Schau, da sitzt sie wie ein Würmchen, das niemandem etwas zuleide tun kann, und im Handumdrehen fällt ihr eine Gemeinheit ein. So schnell kann ich manchmal gar nicht eingreifen.«
Alexandra saß pausbäckig, die rotblonden Haare wie Kükenflaum, am Boden und versuchte, Holzklötze zwischen ihren gespreizten Beinen zu stapeln.
Eleonora seufzte. Sie wusste, dass es nichts brachte, mit Christina über ihre Tochter zu reden. Christina lachte dann nur und tat die Vorwürfe mit einem Achselzucken ab. Was ihre Tochter trieb, kratzte sie nicht, und das war der Punkt, der Eleonora am meisten belastete. Seit Alexandras Geburt, nach der man Christina noch die Ausnahmesituation zugutehalten konnte, hatte sich an ihrem Gebaren der Tochter gegenüber nichts geändert.
Eleonora irritierte dieses Verhalten. Ihre eigenen Muttergefühle wurzelten tief, sie waren der größte Ansporn bei allem, was sie anpackte und plante. Dass ihre Schwester völlig anders dachte und handelte, konnte sie kaum nachvollziehen.
Vor allem aber sorgte sie sich um Alexandra. Was sollte aus dem Kind werden, wenn es letzten Endes nicht wusste, wo es hingehörte?
»Ich nehme Sophia für heute mit, Veronica. Danke fürs Aufpassen. Morgen früh bringe ich sie dir wieder. Wir Frauen wollen dreschen und mit dem Mahlen beginnen, die Männer mit dem Ausheben eines Schutzgrabens rund um das Dorf …« Sie seufzte lächelnd und hob eine Schulter. »Es gibt noch genug vor Einbruch des Winters zu tun.«
Auf dem Weg zurück zu ihrer Hütte sprang Sophia ihr voran. Der Schmerz war vergessen, die Fünfjährige hüpfte wie ein Frosch von einer Seite des Weges zur anderen. Eleonora musterte die Hütten, und ein Lächeln erhellte ihre Züge.
Zu jeder Behausung gehörten mittlerweile ein Stall und eine Scheune. Die meisten Kolonisten versuchten, rund um ihr Heim einen Garten anzulegen, wobei die einen auf Blumen und Büsche setzten, die anderen auf Obst und Gemüse. Vieles verdorrte in der Gluthitze des russischen Sommers, manche Früchte verschrumpelten, noch bevor sie zur Reife gelangt waren. Aber keiner gab auf, alle bemühten sich Monat um Monat aufs Neue, dem Boden das abzuringen, was nach Wohlstand schmeckte.
Sie selbst hatte bislang eine glückliche Hand beim Gartenbau, schnitt dicke Lauchstengel und zog saftige Karotten aus der Erde, und vielleicht würde in diesem Herbst der junge Baum hinterm Haus genug rotbackige Äpfel für zwei, drei Blechkuchen und ein paar Weckgläser Kompott liefern.
Geduld brauchten sie, ganz viel Geduld. Und Bescheidenheit. Sich an ersten Erfolgen freuen und darauf vertrauen, dass es bald besser werden würde, wenn sie nur der Mut nicht verließ.
Es fehlte noch viel.
Bislang fand der Handel innerhalb der Kolonie ohne Regeln statt. Der eine tauschte mit dem anderen, was er gerade erübrigen konnte. Es wurde Zeit, dass sie einen Laden errichteten, in dem die Gärtner ihre Waren abgeben konnten und Kunden sie erstehen. Und eine Kirche brauchten sie, einen Pfarrer dazu.
Eine Schule vermissten sie zudem, denn Anton von Kersens beengter Wohnraum war denkbar ungeeignet für ein Klima von Disziplin und Lernfreude, dass es brauchte, um den Kindern das Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen. Auch dass die Kinderstube in der Scheune untergebracht war, sahen alle als Notbehelf.
Es gab so viel zu tun, dass Eleonora der Kopf schwirrte, wann immer sie im Geiste auflistete, welche Aufgaben noch vor ihnen lagen. Wie sollten sie das alles bloß bewältigen?
In manch trübsinniger Nachtstunde fragte sich Eleonora, ob sie es selbst wohl noch erleben würde, dass die Kolonie Waidbach erblühte, oder ob sie dann das Zeitliche gesegnet hatte und ihre Kinder und Enkel das fortführen mussten, was die erste Generation der Deutschen in Russland begonnen hatte.
Sie winkte jetzt Marliese Röhrich zu, die sich in ihrem Feld aufrichtete, als sie Eleonora entdeckte, und sich die Hand in den Rücken stemmte. Ein Lachen lag auf dem faltigen Gesicht der Frau, ihr Winken wirkte kraftvoll und irgendwie beglückt. Maulbeerbäume pflanzte sie, wie Eleonora wusste, in der Absicht, darauf Seidenraupen zu züchten und die Seide später nach Saratow zu verkaufen. Vielleicht ein guter Ansatz, ging es Eleonora durch den Sinn, als sie ihr eigenes Grundstück erreichte, wo Sophia bereits in der Tür
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