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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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aufgelöst in Panik und unfähig, einen Plan zu fassen, sich fragte, ob dieser völlig irrsinnige, brabbelnde Gesang ihres Bruders wohl das Letzte sei, was sie auf Erden hörte. Und ob es ihr Schicksal sei, auf dieselbe Weise zu enden wie ihr Vater.
    Bei diesem letzten Gedanken durchfuhr sie die Erkenntnis. Das unfassbare Geheimnis ihrer Familie …
    Sie würde es wohl mit in den Tod nehmen.

    Gregor Schmied hatte sich den ganzen Tag gelangweilt. Die Männer hoben die Schutzgräben aus – eine schweißtreibende Arbeit, nach der man kaum noch einen Fuß vor den anderen setzen konnte vor Erschöpfung.
    Gregor hatte seine beiden jüngeren Brüder zum Arbeitstrupp geschickt und seiner Mutter Fieberschübe vorgegaukelt, die ihn ins Bett zwangen. Es brauchte nicht viel, das Mitgefühl seiner verwitweten Mutter zu wecken. Außerdem genoss er als Ältester der drei Brüder ohnehin Narrenfreiheit.
    So hatte er den Vormittag über in seinem Bett geschnarcht, sich gegen Mittag eine ordentliche Portion Eierkuchen braten lassen, die er mit einem Viertel Wodka hinabspülte, und war danach mit dem Pony ziellos durch die Steppe geritten, um seinen Gedanken nachzuhängen, während die anderen unter der Augustsonne schufteten.
    Auf einen mehr oder weniger kam es doch nicht an, und dass er die Arbeit nicht erfunden hatte, daraus machte er keinen Hehl. Ihm lag es mehr, Reden zu führen, die sich gegen die russische Krone und das kreuzdumme Russenvolk richteten, das sich als Leibeigene von den Landsleuten versklaven ließ. Die Zustände in diesem Land trieben ihn zu immer neuen Hasstiraden. Seine Kumpane, eine Handvoll junger Kolonisten, wie er einer war, hörten gern zu. In der Gesellschaft dieser Gleichgesinnten ließen sich zumindest die Abende in diesem Kaff aushalten, wenn sie oben auf der Anhöhe die Wodkaflaschen kreisen ließen, alte Lieder aus ihrer Heimat grölten und Spottverse auf die Zarin zum Besten gaben.
    Dorfschulze Bernhard Röhrich, der sich nach Gregors Meinung verhielt, als trage er über seinem lächerlichen Haarzopf einen Heiligenschein, hatte schon einige Male angedroht, dass ihnen der Schnaps rationiert würde, wenn sie nicht aufhörten, Unruhe zu stiften. Aber eine Obrigkeit gab es in der Kolonie nicht, wie Gregor sehr genau wusste. Saratow mit der deutschen Kanzlei war weit, und er ahnte, dass es Bernhard auf eine ernsthafte Konfrontation mit den jungen Kerlen nicht ankommen lassen würde. Hier wurde jede Hand gebraucht – es wäre unklug, die eigenen Reihen zu lichten. Dafür hatten sie einen heimlichen Verbündeten unter den alten Säcken, und wann immer Gregor daran dachte, entschlüpfte ihm ein grunzendes Lachen. Schulmeister von Kersen hatte sich an mehreren Abenden in der Dunkelheit mit Wodkaflaschen im Bündel zu ihnen geschlichen, um ihnen im Schein des Lagerfeuers auf dem Steppenhügel Nachschub zu bringen. Buckelnd und mit einer Stimme, als hätte er Kreide gefressen, bestärkte er sie darin, sich hier von niemandem etwas verbieten zu lassen.
    Nun, das wussten Gregors Leute auch ohne von Kersens Geschwafel, aber dass der Alte sich andienerte, gefiel ihnen. Einen Schulmeister zum Verbündeten zu haben konnte nicht verkehrt sein.
    Was Gregor ebenfalls sehr gefiel, war, dass es in der Kolonie mehr als ein Dutzend junger Mädchen gab, die innerhalb kurzer Zeit vor seinen Augen von knospenhafter Verschlossenheit zu verführerischer Blüte reiften. Wo man im vergangenen Monat kaum zwischen Knabe und Mädchen unterscheiden konnte, wuchsen auf einmal zarte Hügel unter dem Mieder, aus mageren Hüften wurden appetitliche Rundungen, und unschuldige Kinderblicke verwandelten sich zu lockenden Augenaufschlägen.
    Ja, über die Auswahl in der Kolonie Waidbach gab es nichts zu meckern. Wenn es nur häufiger Gelegenheit gegeben hätte, sich eine der schönen Blumen zu pflücken! Bislang hatte kein einziges Fest im Dorf stattgefunden – nicht einmal ein öffentlicher Platz existierte, auf dem man zum Tanz aufspielen konnte.
    Gregor fand diesen Notstand beklagenswerter als das Fehlen von Schutzgräben gegen was auch immer.
    Unter all den herrlichen Gewächsen war ihm besonders Helmine Röhrich eine Sinnesfreude. Nicht weil sie die Schönste von allen war – ihre Haare hatten die Farbe von altem Schnee, ihre Zähne erinnerten an ein Nagetier, durch ihre durchscheinende Gesichtshaut schimmerten bläulich die Adern. Aber sie war von allen am wohlgefälligsten proportioniert, und ihre Miene sprach eindeutiger als

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