Weiße Nächte, weites Land
zumindest nach außen hin weniger geschäftstüchtig wirkte. Das mochte an dem Champagner liegen. Er hob sein Glas und leerte es in einem Zug, bevor er seine ganze Aufmerksamkeit wieder Christina zuwandte.
Nikolaj schmunzelte vor sich hin, als sei er äußerst zufrieden mit der Entwicklung, die dieses Gespräch nahm.
Hatte er sie ganz bewusst mit diesem Geschwisterpaar zusammengebracht?
Aber war es nicht am Ende egal, wenn er sie durchschaute? Offenbar lag es ihm fern, Christinas Pläne zu durchkreuzen. Im Gegenteil, er schien sie bei allem, wonach ihr der Sinn stand, nach Kräften zu unterstützen.
»Darf ich Euch um diesen Tanz bitten, Mademoiselle Lorenz?« André Haber verneigte sich galant.
Christina wechselte einen schnellen Blick mit Nikolaj. Nein, er würde darauf verzichten richtigzustellen, dass die passende Anrede für sie keineswegs mehr »Mademoiselle« war. Das hatte Zeit, viel Zeit.
»Mit dem größten Vergnügen.« Sie knickste formvollendet und legte die Fingerspitzen auf Andrés angewinkelten Arm, als er sie aufs Tanzparkett geleitete. Die Jackettseide unter ihren Fingern fühlte sich kühl und sinnlich an.
André entpuppte sich als talentierter Tänzer, und Christina war dank Maschas täglicher Unterrichtung so geübt, dass ein Gespräch im Plauderton während der kunstvollen Drehungen und Promenaden auf der Tanzfläche mühelos möglich war. Das Paar fügte sich graziös in die im Takt des Orchesters wogende Menge auf dem Parkett ein. Zum ersten Mal, seit sie in Petersburg weilte, hatte Christina das Gefühl, dazuzugehören, ein Teil dieser faszinierenden Welt zu sein.
André interessierte sich für alles, was Christina betraf. Und sie gab bereitwillig, aber wohlüberlegt Auskunft, ließ hier ein Detail aus und schmückte dort eine Begebenheit aus, um sich ins rechte Licht zu setzen.
Zufrieden bemerkte sie, dass André den Blick nicht von ihr lassen konnte. Er musterte sie von ihrem Gesicht über ihre Brust bis zur Taille, als helfe er ihr in Gedanken aus ihrem Kleid heraus, um sie in all ihrer natürlichen Schönheit betrachten zu können.
Christina ihrerseits wollte alles von ihm über seine Seidengeschäfte erfahren und brauchte sich nicht zu verstellen, um Begeisterung zu zeigen. Ihre Nackenhärchen richteten sich auf, als André erzählte, dass er der alleinige Besitzer der Seidenhandlung sei, seine Schwester jedoch mit einzigartiger Leidenschaft die Geschäfte führte.
Was für vorzügliche Verhältnisse, ging es Christina durch den Sinn, während sie ihr Lächeln noch eine Spur verstärkte.
»Wollt Ihr mir die Ehre erweisen, meinem Handelshaus einen Besuch abzustatten?«, fragte André mit belegter Stimme, als er Christina bei einer Drehung an seinen Körper presste.
Mit elegantem Schwung wand sich Christina aus seinem Arm und neigte den Kopf, während sie die Lider halb senkte. Die perfekte Fassade einer sinnlich berührten, aber beherrschten Frau, in deren Innerem ein Aufruhr tobte.
Der Himmel hatte ihr diesen gutaussehenden, einflussreichen Mann geschickt, der auf dem besten Wege schien, ihrer Schönheit und ihrem Charme zu verfallen. Mit einem Prickeln im Nacken und den Rücken hinab spürte Christina, dass an diesem Abend etwas Bedeutsames seinen Anfang nahm.
Nach all den qualvollen Jahren und Verirrungen war sie endlich auf dem richtigen Weg, den Traum ihres Lebens zu verwirklichen.
»Ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen, Monsieur Haber«, hauchte sie mit mädchenhafter Bescheidenheit und verheißungsvollem Lächeln.
39. Kapitel
Weihnachten 1772, Kolonie Waidbach
Z um siebten Mal feierten die Waidbacher Weihnachten in der Kolonie, doch Eleonora hatte erst in diesem Jahr das Gefühl, das Fest der Liebe zu begehen. Nie vorher hatte sie eine solche Vorfreude erfüllt, nie vorher hatte sie die Hütte geschmückt. Der Duft nach würzigem Gebäck durchzog das Haus, und Sophia und Alexandra waren kaum noch ruhig zu halten. Sophia zeichnete Sterne und Kerzen auf Karton, die sie ausschnitt und mit Fäden an den Zweigen befestigte, mit denen die Mutter die Fenster und Türen dekoriert hatte.
»Wann kommt Vater?«, fragte Alexandra am Tag vor dem Heiligen Abend, während Sophia die Jüngere mürrisch beobachtete.
»Er wird gleich heimkehren. Aber ihr wisst ja – Geschenke gibt es erst morgen. Also, bestürmt ihn nicht zu sehr!«
Sie sagt »Vater« zu ihm, dachte Eleonora wieder einmal mit einem bitteren Geschmack im Mund. Warum auch nicht? Das Kind wusste es ja
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