Weiße Nächte, weites Land
nicht besser … Doch irgendwann würde der Zeitpunkt kommen, da mussten sie ihr erklären, dass ihr Vater ein anderer war und dass nur ihre Mutter wusste, um wen es sich handelte. Eleonora glaubte, dass sie eine Verpflichtung dem Mädchen gegenüber hatten, ihr die Wahrheit zu sagen, aber noch war es dafür zu früh.
Wie würde Alexandra es aufnehmen?
Den Mann im Haus »Vater« zu nennen empfand Alexandra ganz offensichtlich als besondere Auszeichnung, mit der sie gegenüber Sophia prahlte. Eleonoras Tochter sagte »Onkel« zu Matthias. Es würde ein herber Schlag für Alexandra werden, wenn sie erfuhr, dass sie all die Jahre einer Täuschung erlegen war.
Eine dicke Schneeschicht lag seit Wochen über der Steppe, zog sich glitzernd bis an den Rand des Horizonts. Im Dorf hatten sie die Wege frei geschaufelt – ein mühseliges Unterfangen. Jeden zweiten Tag fielen erneut Flocken aus den zum Platzen dicken Wolken. Eleonora betete, dass sich der Winter nicht bis in den April ziehen würde. Sie konnte es nicht erwarten, endlich wieder den Frühling zu riechen. Die Vorratskammer war zwar gut gefüllt, aber der über Wochen andauernde Frost vor zwei Jahren, als Spucke gefroren war, bevor sie auf den Boden traf, hatte sie fast in eine Hungersnot getrieben. Das wollte Eleonora kein zweites Mal erleben.
Matthias war vor drei Tagen auf der zum Schlitten umgebauten Kibitka nach Saratow gereist, dick in Schaffelle eingehüllt, die Fuchspelzmütze tief über die Ohren gezogen. Eleonora wusste, dass er sich von seinen Handelsreisen in die Stadt sehr viel versprach. Er hielt Kontakt zu einer Manufaktur, in der Seide hergestellt wurde. Mit dem Fabrikanten war ein Geschäftsessen vereinbart, und Matthias hatte ihr beim Abschied anvertraut, dass er hoffe, mit guten Nachrichten heimzukehren.
Was er damit meinte, wusste Eleonora nicht, und sie fragte nicht nach, weil sie annahm, er werde schon mit der Sprache herausrücken, wenn es ernst wurde. Sie freute sich nun vor allem darauf, dass er mit den Geschenken für die Kinder zurückkam – und mit Post aus Petersburg.
Sie reckte sich, um eine Girlande mit Strohsternen am oberen Fensterrand zu befestigen, und ließ seufzend die Arme hängen. Ihre Hand glitt zu ihrem Leib, liebevoll streichelte sie über die zarte Rundung, die sich unter ihrer Schürze ertasten ließ. Seit zwei Monaten wusste sie, dass sie Matthias’ Kind unter dem Herzen trug. Es musste in einer der ersten stürmischen Nächte entstanden sein, als sie sich aneinandergeklammert hatten, als wollten sie sich nie mehr wieder loslassen, von ihren Zärtlichkeiten und Küssen gar nicht genug bekommen konnten und alles nachholten, was sie in den Jahren davor versäumt hatten.
»Brauchst du Hilfe?«
Eleonora zuckte zusammen und fuhr aus ihren Gedanken hoch. Klara war unbemerkt aus ihrer Kammer getreten, schlüpfte in die kniehohen Fellstiefel und griff nach der doppeltgenähten Wollstola, die sie sich um den Kopf schlang und die bis über das Gesäß reichte. »Nein, nein, ich komme schon zurecht, danke Klara.« Den Kindern hatten sie noch nicht erzählt, dass sie Nachwuchs erwarteten – niemand wusste es, und so war es auch besser, fand Eleonora. Wenn nur erst Nachricht von Christina kam! »Du willst noch raus?«
Klaras sommersprossiges Gesicht unter der Stola verfärbte sich rötlich, und Eleonora wusste Bescheid. Sie versteckte ihr Grinsen. Die jüngste Schwester war in den letzten Monaten zu einer bezaubernden Frau herangereift, birkenschlank und mit Haaren, die, wenn sie die Flechten löste, wie eine Kaskade von Herbstlaub über ihre Schultern fielen. Ob Klara wusste, dass sie kein Kind mehr war? Eleonora war sich nicht sicher.
»Nur ein bisschen frische Luft schnappen«, murmelte Klara. An der Tür hob sie winkend die Hand, bevor sie rasch hinausging, damit die Wärme nicht entwich.
Keine zehn Minuten später wurde die Tür erneut aufgerissen und ein Schwall Winterluft durchwehte die Hütte. Im Türrahmen stand Matthias, dick eingepackt mit rotgefrorener Nase und einem Glitzern in den Augen. Seine weißen Zähne blitzten, als er Eleonora anstrahlte, auf sie zustürmte und sie in die Arme zog. Er bedeckte ihr Gesicht mit Küssen, als hätten sie sich seit Jahren nicht gesehen. Eleonora befreite sich lachend. »Hast du Nachrichten aus Petersburg?«
»Und welche!«, sagte Matthias leise. »Christina hat zugestimmt! Sie hat ihrem Brief eine eidesstattliche Versicherung für den Pastor beigelegt, dass Alexandra
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