Weiße Nächte, weites Land
Schmerz in Worte zu fassen und bei den beiden Basen Trost zu finden.
»Wie geht es deiner Mutter?«, erkundigte sich Christina leise.
»Mutter!« Helmine spie das Wort förmlich aus, und ihr Gesicht verzerrte sich hässlich. Sie spannte die Schultern und wirkte nun mehr wie eine zum Kampf bereite Hyäne als ein flatterndes Huhn. »Was glaubt ihr, wie es ihr geht? Sie liegt besoffen im Bett und kriegt nicht mit, was um sie herum geschieht. Wahrscheinlich hat sie nicht einmal verstanden, dass Vater nicht mehr ist. Mein Gott, wie ich sie hasse … Ich wünschte, sie wäre an Vaters Stelle in die Mistgabel gestürzt!«
Eleonora schnappte nach Luft. »Du versündigst dich, Helmine. Sei froh und dankbar, dass dir deine Mutter geblieben ist …«
Helmines Kopf ruckte zu ihr herum. Die Traurigkeit war wie versengt von dem flammenden Hass in ihrer Miene. »Dankbar soll ich sein? Wofür denn? Dafür, dass sie von morgens bis abends nach Schnaps stinkt? Dafür, dass sie den größten Teil des Tages im Bett oder am Ofen schnarcht? Da hätte ich lieber den Jähzorn des Vaters weiter ertragen …«
Christina wusste von den erschütternden Familienverhältnissen der Röhrichs. Die einzige Tochter hasste die Mutter für ihre Schwäche und ließ keine Gelegenheit aus, sie das spüren zu lassen.
Aber was bedeutete nun der tödliche Sturz? Hieß das, dass die Familie die Russlandpläne fallenließ?
Christina gestand sich insgeheim ein, wie wenig ungelegen es ihr kam, dass Onkel Johann überraschend das Zeitliche gesegnet hatte. Natürlich hätte sie ihm einen sanfteren Tod gewünscht, aber … sie war jetzt frei. So frei, als hätte sie sich einen schweren Sack von den Schultern gestreift. Nicht übel, diese Entwicklung.
»Was ist mit eurer Abreise nach Russland? Wollt ihr die verschieben? Was sagt Bernhard?«
Bei der Erwähnung ihres Bruders blitzten Helmines Augen wie Eiskristalle in einem Sonnenstrahl. »Bernhard meint, auch ohne Vater sollten wir aussiedeln. Nur was mit Mutter wird, das müssen wir noch klären«, fügte sie verdrießlich hinzu. »Wenn es nach mir ginge, ließen wir sie zurück. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Russen auf eine Frau wie sie gewartet haben.«
»Du darfst so nicht reden«, ermahnte Eleonora sie scharf. »Sie ist deine Mutter, Helmine. Sie hat es nicht verdient, dass du so unbarmherzig mit ihr ins Gericht gehst.«
»So? Und habe ich es verdient, dass sie mich bis auf die Knochen blamiert? Manchmal ist es mir, als stünde mir ins Gesicht geschrieben: Das ist die Tochter der Säuferin. Ich spüre die Herablassung der anderen, Tag für Tag. Das Tuscheln und Zischeln verfolgt mich in meine Träume. Dafür soll ich nachsichtig sein?«
»Also werdet ihr mit uns nach Russland gehen«, bemerkte Christina nachdenklich. »Du, dein Bruder Bernhard, dein Bruder Alfons und deine Mutter … Wir werden zusammenhalten, Helmine, darauf kannst du dich verlassen. Wir sind doch eine Familie …«
Wie Schmelzwasser sammelten sich Tränen in Helmines Augen. Sie nickte. »Ich bin froh, dass ich euch habe. Und natürlich Bernhard.« Sie sah auf. »Sagt, wo ist Klara?«
Christina und Eleonora wechselten einen Blick. »Sie ist seit den Morgenstunden verschwunden.«
»Oh Gott! Das passt doch gar nicht zu ihr.«
»Nun«, Christina betrachtete ihre Hände, »wir haben ihr mitgeteilt, dass wir aussiedeln werden. Damit war sie leider gar nicht einverstanden. Ich fürchte, sie glaubt, mit ihrer Flucht unsere Pläne durchkreuzen zu können.« Sie schob das Kinn vor. »Aber sie täuscht sich.«
»Wie dumm von ihr, nicht nach Russland zu wollen«, erwiderte Helmine und schneuzte sich in ihre Schürze. »Ich finde das alles sehr … aufregend. Ich meine, was haben wir hier noch verloren? Unsere Heimat ist verloren … Wir brauchen eine neue.«
Christina schmunzelte. Als Verbündete war Helmine ihr recht wie jede andere. »Das sehen wir genauso. Wenn Klara heimkehrt, solltest du sie dir vorknöpfen. Vielleicht hört sie auf dich mehr als auf uns.«
»Wenn sie überhaupt heimkehrt«, fügte Helmine bang hinzu. »Erst stirbt Tante Theresa, dann mein Vater, und jetzt ist Klara weg … Vielleicht will uns der Herrgott dafür strafen, dass wir das Land verlassen? Vielleicht bringt er deswegen dieses Unglück über uns?«
Eleonora biss sich verzagt auf die Unterlippe.
Selbst Christina spürte ein flaues Gefühl im Leib bei Helmines Worten. Verdammt. Jubilieren wollte sie und sich nicht um diesen
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