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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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starrköpfigen Fratz den Kopf zerbrechen.

    Der Weg nach Waidbach zog sich wie ein unendliches Band. Matthias und Franz Lorenz kannten die Strecke zwar blind, aber sie fluchten trotzdem, dass ausgerechnet in dieser Nacht schwere Wolken vor dem halbvollen Mond trieben und dieser nur hin und wieder sein bleiches Licht auf die Äcker und Wiesen warf.
    Matthias hatte in dem Wäldchen seinen Umhang abgelegt und das verletzte Mädchen hineingebettet. Sie trugen sie abwechselnd auf den Armen – auf die Hucke gepackt, wäre die Last erträglicher gewesen, aber die Kleine wimmerte wie ein tödlich verletztes Tier, als sie es versuchten. Sie hielt die schwarzrot verkrusteten Schenkel krampfhaft aneinandergepresst.
    Nach den ersten Schrecksekunden hatten sie das Mädchen erkannt. Es war die jüngste der Weber-Töchter, die Sommersprossen-Klara, und auch sie hatte in Matthias und Franz die ungleichen Brüder vom Lorenz-Hof ausgemacht. Aber zunächst schien sie das nicht zu besänftigen. Der erschreckte Ausdruck in ihrem Gesicht blieb, schützend hob sie eine Hand vor die Augen, die andere vor ihren Schoß, als sich die Männer ihr näherten.
    »Pst, fürchte dich nicht, Kleine«, sagte Matthias behutsam, »wir bringen dich heim.«
    »Was ist denn bloß passiert?«, fragte Franz, nicht weniger erschüttert als sein Bruder über den Zustand des Mädchens. Ihr schmutziges Kleid hing in Fetzen über der zerrissenen Leinenbluse, am Hals leuchteten feuerrot Würgemale, an ihren Beinen klebte getrocknetes Blut.
    »Ein Mann … er sprang plötzlich aus dem Gebüsch, packte mich wie ein Teufel und …« Ihre Stimme brach. »Er … er hat gestunken wie verfault. Es war … grauenvoll. Die Hölle … Er hat mir so entsetzlich weh getan. Ich wusste nicht … Ich dachte, ich muss sterben …«
    Nun wimmerte sie an Matthias’ Brust. Er versetzte die Hände, um das Mädchen in eine erträglichere Haltung zu bekommen. Seine Arme wurden allmählich taub, aber er biss die Zähne zusammen, weil schemenhaft die ersten Häuser von Waidbach in Sichtweite kamen.
    Ein Käuzchen schrie hinter ihnen seinen beklemmenden Ruf, als wollte es die beiden Wanderer mit ihrer Last ankündigen.
    »Das wärest du auch beinahe«, sagte Franz ungerührt. »Was läufst du mutterseelenallein im Wald herum? Haben dir deine Schwestern nicht erzählt, dass dieser Tage niemand mehr sicher ist? Selbst wir Mannsbilder brechen lieber zu zweit auf. Und da läuft ein Küken wie du alleine los. Ein willkommenes Fressen für jeden Wegelagerer. Hattest du Münzen dabei? Schmuck? Hat er dich ausgeraubt?«
    Klara schüttelte den Kopf. »Ich besitze doch nichts. Er hat danach gesucht, doch als er nichts fand …« Ihre Finger knackten, als sie sie um Matthias’ Schultern krampfte.
    Matthias unterdrückte den Schmerz, wiegte das Mädchen beruhigend. »Es ist vorbei, Klara. Du brauchst einen Doktor, aber ich habe keine Ahnung, wie wir dich jetzt noch nach Büdingen schaffen sollen.«
    Klaras Gesicht lief dunkelrot an. »Ich brauche keinen Arzt. Es wird schon wieder heilen.«
    Sie schämt sich, ging es Matthias durch den Sinn. Armer Wurm.
    Das Weber-Haus lag am anderen Ende von Waidbach. Sie mussten das ganze Dorf durchqueren.
    Die Häuser rechts und links der Straße lagen geduckt unter knorrigen uralten Kastanien, die ihre Äste wie anklagende Finger in die Schwärze der Nacht reckten. Nur vereinzelt schlängelte sich eine dünne graue Rauchschliere über einem Dach oder fiel flackerndes gelbes Licht aus den Fenstern – Zeichen, dass die Bewohner noch wach waren. Die meisten gingen dieser Tage früh zu Bett. Viele, um im Schlaf den knurrenden Magen nicht mehr fühlen zu müssen.
    Hinter den Scheiben des Weber-Hauses blakte Kerzenschein. Von draußen konnten Matthias und Franz erkennen, dass die beiden Schwestern mit Besuch in der Wohnstube am Tisch saßen. »Gleich haben wir es geschafft«, murmelte Matthias an Klaras Ohr.
    »Sie werden mich schimpfen«, erwiderte Klara mit dünner Stimme.
    »Und das mit Recht!«, gab Franz zurück.
    »Sicher nicht!«, erwiderte Matthias im gleichen Atemzug. »Sie werden froh sein, dich wiederzuhaben. Gewiss sind sie krank vor Sorge.«
    Franz stieg die beiden Stufen zur Eingangstür des Fachwerkhauses hinauf und hämmerte mit der Faust dagegen. Matthias hielt sich mit dem Mädchen auf dem Arm hinter ihm.
    Nur einen Wimpernschlag später wurde die Tür aufgerissen.
    Christina wich erschrocken vor den beiden Männern zurück, bevor sie

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