Weiße Nächte, weites Land
Klara erkannte, die wie ein Häuflein verdreckter Lumpen aussah.
»Herr im Himmel«, flüsterte sie, trat zur Seite und ließ die Knechte eintreten. »Klara … Was ist passiert?«
»Unterhalten könnt ihr euch später«, brummte Matthias. »Wo kann ich sie ablegen?«
Da eilten Eleonora und ein weiteres Mädchen heran. Matthias erkannte die Besucherin als Helmine, die Tochter des Schusters.
Auch Eleonora starrte mit angstvoll geweiteten Augen auf ihre Schwester. »Ist sie schwer verletzt?« Sie breitete eine wollene Decke auf der Steinbank neben dem Ofen aus. »Komm, pack sie da hin!«, bat sie.
»Eleonora …« Klaras Stimme klang wie das Krächzen eines verletzten Vogels.
»Ist gut, Liebchen. Du bist in Sicherheit«, murmelte Eleonora, kniete sich neben das Mädchen, streichelte ihre Wangen mit beiden Händen und küsste ihre Stirn. »Alles wird gut.«
Christina hinter ihr stemmte die Hände in die Hüften. »Was hast du dir dabei bloß gedacht, dich einfach aus dem Staub zu machen? Jetzt siehst du, was du davon hast!«
Eleonora funkelte sie an. »Jetzt ist keine Zeit für Vorwürfe«, zischte sie ihr zu. »Kümmere dich um unsere Gäste!« Sie nickte in Richtung der Knechte, die mit gesenktem Kopf warteten.
»Kommt!« Christina ordnete das Schultertuch am Ausschnitt ihres Leinenkleides, band sich die Schürze ab und hakte sich bei Matthias ein. Sie führte ihn zum Tisch in der Wohnstube. Franz folgte ihnen, während Helmine sich neben Eleonora zu Klara kauerte.
»Wir wollten euch nur die Schwester bringen«, erklärte Matthias unbeholfen und wechselte einen Blick mit Franz, der nun von einem Ohr zum anderen grinste.
»Ach papperlapapp!« Christina zeigte beim Lachen ihre hübschen Zähne. »Ihr setzt euch, trinkt einen heißen Apfelwein mit uns und erzählt.«
»Lang zu erzählen gibt es da nichts.« Matthias ließ sich widerwillig auf dem Stuhl nieder. In knappen Sätzen fasste er zusammen, wie sie, aus Büdingen kommend, im Gebüsch das Wehklagen vernommen hatten.
»Ein Mann hat sie überwältigt. Ich fürchte …« Matthias räusperte sich in die Faust.
Christina schlug die Hand vor den Mund. »Was für ein Unglück«, murmelte sie. Gleich darauf verhärtete sich ihre Miene schon wieder. »Was läuft sie allein draußen herum!«
»Das haben wir uns auch gefragt«, erwiderte Matthias. »Wie leichtsinnig von euch, das zuzulassen.«
»Gar nichts haben wir zugelassen!«, erwiderte Christina empört, doch die plötzliche Härte in ihren Zügen wich sogleich wieder betörender Sanftheit. Sie lächelte Matthias an und legte ihre Finger wie zufällig auf seine Pranke. »Danke, dass du sie getragen hast. Ohne dich wäre sie verloren gewesen.«
»Nun, wir haben sie beide getragen«, erwiderte Matthias irritiert und zog seine Hand vom Tisch, um sie in den Schoß zu legen.
Christinas rasanter Stimmungswechsel verunsicherte ihn. Und warum lächelte sie ihn die ganze Zeit an? Seinen Bruder beachtete sie kaum, und wenn sie in seine Richtung schaute, nahm ihre Miene einen hochmütigen Ausdruck an.
»Ihr solltet besser auf sie aufpassen«, erklärte Franz. »Sie ist noch ein Kind.«
Christina funkelte ihn böse an. »Willst du uns Nachlässigkeit vorwerfen?«
Franz zuckte die Schultern und grinste. Matthias meinte, einen spöttischen Ausdruck in seinen Augen zu erkennen. Es schien fast so, als neckte er die hübsche Weberin und als hätte er Spaß daran, sie zur Weißglut zu treiben. »Hättet ihr sie nicht ziehen lassen, läge sie jetzt unversehrt in ihrem Bett. Nun ist sie marode, und der Teufel weiß, ob sie jemals wieder heil wird.«
»Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten, Franz Lorenz! Damit hast du genug zu tun«, fuhr Christina ihn an, doch Franz’ Grinsen verstärkte sich nur noch.
»Warum war sie denn allein auf der Straße?« Das Scharmützel der beiden war Matthias lästig, er wollte nach Hause. Er nahm einen langen Schluck von dem Apfelwein, der in dem tönernen Becher säuerlich duftete.
»Nun …« Christinas ganze Aufmerksamkeit richtete sich wieder auf ihn. Franz wandte sie die kalte Schulter zu, was den aber nur zu amüsieren schien. »Sie ist nicht einverstanden mit unseren Plänen, nach Russland umzusiedeln. Sie glaubt, dass sie damit Verrat an unserer Mutter, Gott hab sie selig, begeht.«
»Ihr wollt auch nach Russland?« Franz richtete sich auf. Ein Leuchten ging über sein Gesicht.
»Hast du was dagegen?«
»Ich wäre glücklich über eure Gesellschaft«, parierte
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