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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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Großzügigkeit der russischen Herrscherin nicht auf Männer beschränkte. Zarin Katharina eilte der Ruf voraus, besonders den Frauen und Mädchen ganz neue, ungeahnte Möglichkeiten zu bieten. Drüben in Russland würde niemand Anstoß daran nehmen, dass eine Frau wie Anja Eyring eine Apotheke führte. Eine prachtvoll ausgestattete Apotheke mit Regalen vom Boden bis zur Decke, voller Töpfe, Tiegel und Standgläser, fein beschrifteter Glasbehälter mit getrockneten Kräutern und Heilpflanzen. Dazu Kommoden mit unzähligen schmalen Schubfächern und zierlichen Metallbeschlägen, eine bronzene Waage auf dem polierten Thekentisch, in den Schaufenstern Stiche von den wundersamsten Heilpflanzen. Ein Bimmeln des Türglockenspiels würde jeden Kunden willkommen heißen … Ja, Anja hatte sehr genaue Vorstellungen von ihrer Moskauer Apotheke.
    Erste Etappe für sie würde ihr Großonkel sein, ein Bruder ihres Großvaters. Hin und wieder war Post von ihm gekommen – Anja wusste, dass er in Russland als Arzneihändler allerhöchstes Ansehen genoss. Die Russen unterschieden nicht zwischen Ärzten und Apothekern – beide sorgten für die Gesundheit der Menschen.
    Gewiss würde er überrascht sein, wenn sie vor ihm stand – Anja beabsichtigte nicht, ihn über ihr Auftauchen vorab in Kenntnis zu setzen, aus reiner Angst, er könnte es ihr auszureden versuchen oder es ihr sogar verbieten. Außerdem legte sie keinen Wert darauf, dass er die Verbindung zu ihrem Vater aufleben ließ.
    Sie ächzte, als sie sich nun aufrichtete und den schmerzenden Rücken massierte. Ihre Finger waren aufgequollen von der Lauge, die Haut an manchen Stellen aufgeschürft.
    Sie lauschte. Die Fenster standen weit geöffnet. Von draußen drang Vogelgezwitscher zu ihr herein. Spatzen und Meisen begrüßten als ersten Vorboten des Frühlings den lauen Wind, der über die heimatlichen Fluren strich.
    Anja glaubte fest daran, dass die Zarin ihre Pläne gutheißen würde. Obwohl sie ausdrücklich Bauern in ihr Land einlud, würde sie doch den Handwerkern und Gelehrten unter den Einreisenden nicht verwehren, ihrer Bestimmung nachzugehen.
    Nun, eine Gelehrte war sie nicht.
    Anja ließ sich auf einen Stuhl fallen. Die Bürste warf sie mit Schwung in den Holzeimer, dass die warme Brühe spritzte.
    Eine Universität hatte sie niemals von innen gesehen.
    Aber ihr Vater. Der hatte in Leyden studiert.
    Sie hörte ihn in dem winzigen Laden gleich nebenan werkeln. Wie immer trug er seine Holzpantoffeln, die Haare standen ihm grauweiß vom Kopf ab. In seinen Augen lag ein kindliches Glitzern, sein Mund war immer verzogen, als wollte er jeden Moment zu kichern beginnen. Im Dorf nannte man ihn nur den »verrückten Fritz«. Im Alter hatte er den wachen Verstand verloren, und jeden Tag wurde es ärger. Er lebte in seiner eigenen Welt, vergaß, was gestern und heute geschah, lebte von seinen Erinnerungen und seiner Phantasie und schien mit sich im Reinen.
    Ein paar Kinder aus dem Dorf hatten ihm am Morgen einen Korb voller Waldkräuter gebracht, die er nun ordnete und zu Sträußen band, um sie zum Trocknen an die staubigen Schränke zu hängen. Dort würde er sie vergessen wie all die anderen Salben und Tinkturen, die keine Heilwirkung mehr erzielten, da sie vor vielen Jahren angerührt worden waren und nicht mehr den Hauch eines Aromas verströmten.
    In dem Laden roch es nach ranzigem Talg und moderigem Holz, nach Krankheit und Tod. Kein Wunder, dass kaum noch jemand die Apotheke betrat, außer ein paar frechen Rotzlöffeln, die Späße mit dem Alten trieben.
    Wenn er sie, seine Tochter, nur arbeiten ließe … Wenn er nur mehr Zutrauen in sein einziges Kind hätte!
    Anja war davon überzeugt, dass es ihr gelungen wäre, den Laden wieder auf Vordermann zu bringen und neue Kundschaft anzulocken. Kontakte hätte sie geknüpft zu Ärzten bis nach Frankfurt, in die Lazarettlager und Hospitäler … Aber wann immer sie die Sprache darauf brachte, schnitt ihr der Vater mit einer Handbewegung das Wort ab. »Geh ins Dorf, amüsier dich, such dir einen guten Mann, Anja! Schenk mir Enkelkinder, die mir mit ihrem munteren Lärm meine letzten Tage versüßen!«
    Sie lehnte sich in dem Stuhl zurück und berührte mit den Fingerspitzen die Narben, die sich breitflächig von ihrer Nasenwurzel über die Wange bis hinab zu ihrem Dekolleté zogen. Verhornt und rauh fühlten sie sich an, Wülste, rot wie Himbeeren, die ihr Antlitz beherrschten.
    In seiner Verrücktheit benahm sich

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