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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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bist, mit uns zu ziehen. Hast du noch Schmerzen, Liebchen?«
    Klaras Wangen überzogen sich mit einer feinen Röte. »Nein, nein, es ist auszuhalten. Nur beim Sitzen …«
    Eleonora nickte. »Ich verstehe schon.« Gleich am Morgen nach dem Überfall auf Klara hatte sie zwei Jungen aus dem Dorf nach Büdingen geschickt, damit sie den Doktor holten. Sie waren mit der Nachricht heimgekehrt, dass sich der Arzt dem letzten Treck nach Lübeck angeschlossen hatte.
    Es hatte Eleonora über alle Maßen erschreckt, dass ein wichtiger Mann wie der Doktor die Heimat verließ. Wer würde am Ende noch bleiben? Der Waidbacher Pastor wohl, der Dorfschulze, der Wirt und der Bürgermeister in Büdingen, die Juden, ein paar Zugezogene, die erst vor ein paar Jahren hier ein Zuhause gefunden hatten und keinesfalls erneut entwurzelt werden mochten …
    Sie hatte die Jungen gebeten, Anja Eyring zu schicken. Kurz darauf stand die Apothekerstochter vor Klaras Bett und untersuchte sie mit undurchdringlicher Miene. Am Ende überließ sie den Schwestern ein Säcklein mit einer scharf duftenden Kräutermischung, aus der sie zweimal täglich einen Sud kochen sollten, um darin Leinenbinden zu tränken und dem Mädchen vorzulegen. »Die Kräuter beschleunigen die Wundheilung, sorgen dafür, dass keine Entzündung auftritt, und nehmen ihr einen Großteil der Schmerzen.«
    Als Eleonora Anjas Hände nahm, um ihr zu danken, entzog sie sie ihr sofort ohne die Spur eines Lächelns und mit abgewandtem Gesicht. »Schon recht, Eleonora. Ich tu nur meine Pflicht.« Die Kreuzer, die Eleonora ihr zusteckte, nahm sie ohne jede Regung.
    Klara war wie verwandelt seit dem Vorfall. Aber Eleonora fand die Entwicklung vom bockigen Zicklein zum scheuen Lämmchen bedenklich. Konnte sich die Wesensart eines Menschen von einem Tag auf den anderen derart ändern? Oder brodelte da etwas unter der Oberfläche? Die Zeit würde es zeigen, ging es Eleonora durch den Sinn, während sie nun Handtücher von der Leine nahm, die sie allein falten konnte, während sich Klara zu Sophia hockte, um ihr den feinen Sand vor die Füße rieseln zu lassen.
    Mit den Gedanken schien Klara nicht in der Sandkiste zu sein. »Ich könnte einen Tisch an die Straße stellen und darauf allen Zierat, alle Töpfe und das Besteck, das wir nicht mitnehmen, feilbieten, oder? Ständig rattern die Fuhrwerke mit den Aussiedlern vorbei – vielleicht kauft uns einer etwas ab?«
    Eleonora biss sich auf die Unterlippe beim Nachdenken. Noch war nicht endgültig geklärt, ob sie von den Berufern anerkannt wurden. Ob der Gemeinderat ihnen die notwendigen Dokumente ausstellte … Um all diese Angelegenheiten kümmerte sich Christina, selbstverständlich – sie war von jeher tüchtig in solchen Dingen. Den Haushalt und die liebevolle Pflege der Jüngeren überließ sie nur zu gern Eleonora, eine Aufteilung der Pflichten, die auch Eleonora zupasskam.
    Gerade heute war Christina zu früher Stunde aufgebrochen, um die letzten Formalitäten zu erledigen. Was, wenn sie zurückkam und verkünden musste, dass ihnen die Ausreise verweigert wurde?
    »Warte damit noch, Klara!«, rief sie der Schwester zu. »Das können wir am letzten Tag versuchen. Zunächst brauchen wir einen Käufer, der die Weberei übernimmt. Den schweren Webstuhl kriegen wir niemals aus dem Keller nach oben. Der müsste erst auseinandergelegt werden … Puh, was für ein Aufwand!«
    »Schade, dass wir ihn nicht mitnehmen können«, meinte Klara. »In Russland werden doch auch Weber gebraucht.«
    »Mit dem Stuhl im Gepäck kämen wir keine zehn Meilen weit«, erwiderte Eleonora. »Aber vielleicht passt das Spinnrad noch auf den Karren.« Sie legte ein weiteres, nach Frühling duftendes Handtuch auf den Stapel und fuhr herum, als von der Dorfstraße her ein fröhliches Rufen erklang.
    Mit federleichten Schritten eilte Christina heran. Ihr Rock wehte, ihre Augen blitzten, einzelne Löckchen wirbelten um ihr Gesicht. Als sie den Vorgarten erreichte, fasste sie Klara an den Händen und zog sie hoch, um sie im Kreis herumzuwirbeln. Mit schmerzverzerrtem Gesicht befreite sich Klara. Also griff Christina nach Sophia und hob sie in die Luft, um ihre runden Bäckchen zu küssen. Sophia fing an zu kreischen wie am Spieß, so dass Christina sie rasch wieder absetzte. Es tat ihrer überschäumenden Laune keinen Abbruch. Endlich war sie bei Eleonora und umarmte die Schwester.
    Dann rückte sie einen Schritt von ihr ab, nahm ihre Hände und sah ihr fest in die

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