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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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Augen. »Nächsten Mittwoch geht es los, Schwesterlein. Fang schon mal an, dich im Dorf zu verabschieden!« Jetzt lachte sie übers ganze Gesicht. »Russland, wir kommen! Juchhei!« Sie jubelte und drehte sich mit erhobenen Armen und schnipsenden Fingern im Kreis.
    Ein Lächeln stahl sich auf Eleonoras Gesicht. Klara drückte sich an ihre Seite. Eleonora legte der Jüngeren den Arm um die Schultern. Beide schauten sie Christina an, deren Augen vor Wagemut Funken zu sprühen schienen.
    »Wie konntest du das alles im Handumdrehen regeln?«, fragte Eleonora. Auch in ihr breitete sich, während sie die Schwester betrachtete, ein leichtes Fieber aus, eine prickelnde Vorfreude auf das Neue, auf ein besseres Leben für Sophia, für Klara …
    Christina winkte in Richtung der Straße, auf der ein Dutzend Menschen schwer bepackt in Richtung Büdingen marschierte. Christina formte die Hände zu einem Trichter vor dem Mund. »Wir kommen bald nach!«, rief sie übermütig. Heiteres Rufen und Lachen schallten zurück.
    »Ich erzähle euch alles …«, wandte sie sich wieder an die Schwestern und wollte mit einer Armbewegung den Stapel penibel gefalteter Wäsche von der Bank schieben. Eleonora hinderte sie daran, indem sie ihren Ellenbogen umfasste. »Klara, bring das rasch rein und leg es ordentlich in die Kiste, ja?«
    Christina und Eleonora setzten sich dicht nebeneinander auf die Bank, die leise knarrte. Die Spätnachmittagssonne wärmte den Boden um sie herum, ließ die Pfützen verdampfen. Zaghaft richteten sich einzelne platt getrampelte Grashalme auf, als wollten sie den Frühling kosten. Von den mit Unkraut übersäten Beeten stieg der Duft nach warmer Erde und wildwachsenden Krokussen auf. An den Forsythien bildeten sich frühe Knospen mit dem ersten zarten Grün. Die sonnengelbe Blüte kurz vor Ostern würden sie nicht mehr miterleben, ging es Eleonora durch den Sinn.
    Christina nahm Eleonoras Hände in die ihren. »So viel habe ich heute erlebt, liebe Schwester … Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.« Sie gluckste. »Heute Morgen traf ich mich mit anderen am Dorfbrunnen. Alle wollten sie in der Früh nach Büdingen. Manche wollten den Zehnten ins Gemeindebüro bringen, um die Steuerschuld auf ihren Besitz zu begleichen. Andere wollten beim Werber vorsprechen wie ich. Ein ganz charmanter Mann übrigens, und offiziell von der Zarin eingesetzt. Johann Facius steht dem kaiserlich russischen Kommissariat vor. Er ist sehr umtriebig, weißt du, und sorgt dafür, dass die Auswanderer während der Wartezeit in Büdingen unterkommen. Aber das betrifft ja uns nicht – wir können gleich von hier aus aufbrechen. Es gibt, wie ich inzwischen erfahren habe, eine ganze Reihe privater Werber, die sich gegenseitig die Kunden abspenstig machen. Sie kassieren eine Art Kopfgeld für jeden, den sie zur Ausreise überreden. Aber ich war, wie gesagt, bei Facius, und auf dem Weg zu ihm ergab es sich …« Christinas Augen funkelten. »Nun, meine Liebe, ich werde heiraten!«, brach es aus ihr heraus.
    Eleonora klappte der Mund auf. »Du hast dich verlobt?«
    »Nun ja, so offiziell läuft das dieser Tage nicht. Aber … ja, wenn du es so nennen willst.« Sie lachte herzlich. »Es ist der … Matthias Lorenz. Was sagst du nun?«, fügte sie triumphierend an. »Ist das nicht ein stattliches Mannsbild? Nie und nimmer hätte ich einen Besseren finden können. Stark und gesund, gescheit und rechtschaffen.«
    Leichter Schwindel erfasste Eleonora. Warum war von allen möglichen Männern ausgerechnet Matthias in Christinas Fänge geraten? Wie hatte sie das bloß angestellt?
    Hatte sie die Zeichen falsch gedeutet? Nach dem letzten Besuch der Knechte bei ihnen war sie sicher gewesen, dass Matthias ihre kokette Schwester eher geringschätzte. Wie war dieser Sinneswandel zu erklären?
    Sie räusperte sich, als sie merkte, dass Christina immer noch auf eine Reaktion wartete. »Nun, Glückwunsch. Matthias ist ein guter Mann. Aber trotzdem … Ich verstehe nicht …«
    Christina winkte ab. »Ach, da gibt es nichts zu verstehen, Eleonora. Die Zeiten haben sich gewandelt, wie du merkst. Wir brauchen unsere bevorstehende Vermählung nicht mehr dreimal von der Kanzel ausrufen zu lassen – das geht jetzt alles hopplahopp. Die Leute stehen Schlange vor der Marienkirche, weil jeder die Notwendigkeit erkennt – und den Vorteil. Als Ehepaar bekommen wir die doppelte Kreditsumme, das doppelte Handgeld.« Sie beugte sich vor und verfiel in

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