Weiße Nächte, weites Land
an.
Eleonora hatte davon gelesen, dass in Sankt Petersburg die Sonne im Juni nie unterging – die Weißen Nächte versprühten einen Zauber, der viele Dichter zu großen Werken inspirierte. Aber jetzt im Mai war es der Vollmond, der ihnen am wolkenlosen Himmel Licht spendete, während sie am Ufer entlang an verstreuten Siedlungen vorbei und durch Wäldchen hindurch stadteinwärts rumpelten.
Die Luft schmeckte nach Salz und Tang, die Brise, die von der Bucht her wehte, war so kalt, dass sie wie Eiskristalle in der Lunge stach. Vereinzelte Schreie von aufgeschreckten Möwen und Seeschwalben zerrissen die Stille der Nacht.
Als sie das Stadttor passierten und die ersten Häuser erreichten, legte Christina den Arm um ihre Schwester. »Sei nicht bang, Eleonora. Du wirst sehen, in wenigen Stunden werden wir die Zusicherung unserer Verwandten haben, dass sie ihre Kontakte nutzen, damit wir mit unseren Familien in dieser herrlichen Stadt bleiben dürfen. Vielleicht werden wir in der Nähe des Zarenhofes wohnen … Stell dir das vor!«
Eleonora presste die Lippen aufeinander. »Versprich mir, dass du kein Risiko eingehst und uns keiner Gefahr aussetzt! Wir werden gebraucht, Christina – was soll aus Sophia und Klara werden, wenn uns etwas zustößt?«
Christina lachte fröhlich auf. »Was bist du für ein Hasenfuß, Schwester. Was soll uns denn zustoßen? Das Schlimmste wäre, dass wir die Verwandten nicht gleich heute antreffen. Dann müssen wir einen weiteren Nachtausflug unternehmen. Aber ist das nicht aufregender als diese scheußliche Warterei in der Kaserne? Stell dir vor, wie sich Klara und Sophia freuen, wenn wir ihnen verkünden, dass wir ein prachtvolles Zuhause gefunden haben.«
Eleonora warf einen letzten Blick über die im Mondlicht schimmernde Meeresbucht, bevor diese hinter den grau aufragenden Hafengebäuden verschwand.
Die Pferdehufe klapperten auf dem Kopfsteinpflaster, als der Kutscher die Zügel anzog und die Fahrt verlangsamte.
Die Schwestern reckten die Hälse, um an dem Kutschbock vorbei nach vorne zu schauen. So dunkel es in diesem Viertel war, in einiger Entfernung konnten sie Lichter erkennen, wahrscheinlich Laternen und Fackeln, die die Prachtstraßen säumten und vor den Kirchen und Palästen aufgestellt waren.
Selbst in diesem Stadtteil verliefen die schmalen Straßen schnurgerade – Zeichen dafür, dass Sankt Petersburg keine historisch gewachsene Stadt wie Rom oder Paris darstellte, sondern auf dem Zeichenbrett begabter Architekten entstanden war, wie Eleonora wusste: das Fenster Russlands zum Westen, die moderne Vorstellung einer Stadt als Gegenstück zum bodenständigen Moskau, einer der bedeutendsten Handelshäfen der Welt.
Immer wieder fuhren sie entlang von Kanälen oder überquerten sie – Petersburg war von natürlichen und künstlichen Wasserstraßen durchzogen. Eleonora hatte gelesen, dass sich Zar Peter bei der Stadtplanung Amsterdam als Vorbild genommen hatte, aber was nützte das jetzt ihr und ihrer Schwester? Sie waren ihr Leben lang nicht aus dem Heimatdorf herausgekommen, kannten weder die niederländische Stadt noch die Hauptstadt des russischen Reiches. Sich Pläne anzuschauen und die Werke der Dichter zu lesen, die Sankt Petersburgs Schönheit beschrieben, half nichts, wenn man sich unversehens mitten in der Stadt zurechtfinden musste. Eleonora vermochte sich nicht im Geringsten zu orientieren. Selbst wenn sie sich an den einen oder anderen mit hohen Säulen verzierten Palast erinnerte, den sie von Stichen und Beschreibungen her kannte, die Nebelfetzen ließen alle Straßen und Gebäude unwirklich und unscharf erscheinen.
Sie zog die Decke bis zur Brust hoch. Der wollene Stoff fühlte sich klamm an von der Feuchtigkeit, die sich zwischen den Gebäuden sammelte. Nebelschwaden waberten wie Rauchfahnen über die stuckverzierten Giebel und Dächer.
Die meisten der Wohnhäuser, die sie passierten, waren in zarten Tönen gestrichen. Eleonora konnte sich vorstellen, wie anmutig sich das Blassgrün, Zitronengelb und Hellgrau im Tageslicht ausnahmen. Die Fassaden erschienen ihr zerbrechlich, als wären sie aus dünnem Karton geschnitten.
Wie betörend mochte die Stadt in den berühmten Weißen Nächten wirken … Ob Christinas Zuversicht berechtigt war?
»Wo wird er uns absetzen?«, fragte Eleonora leise.
Christina hob die Schultern. »Ich habe Sergej erklärt, dass wir nach deutschen Verwandten suchen, die in Petersburg ein Geschäft betreiben –
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