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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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Flüchen und mit Hilfe seines Stocks durch die Umstehenden, um sich breitbeinig vor den beiden Vermissten aufzubauen. »Eure Geschichten spart Euch für später! Jetzt wird keine Stunde mehr vergeudet. Wenn ich es recht sehe, steht nun einer Abreise nach Saratow nichts mehr im Wege. Oder …«, er wandte sich mit zusammengekniffenen Augen an die Waidbacher und stierte jedem Einzelnen ins Gesicht, zuletzt seinem Widersacher Matthias, »oder möchte das nun noch jemand verhindern?«

20. Kapitel
    H underte weiterer Kolonisten trafen aus Lübeck in Oranienbaum ein, erschöpft und gezeichnet von der Überfahrt.
    Alle zwei Tage fuhren vom Kasernenhof Dutzende von Wagen zum Abtransport der Aussiedler ins Landesinnere ab. Anton von Kersen sorgte noch an dem Abend, an dem die Weber-Schwestern wieder auftauchten, dafür, dass die Waidbacher den nächsten Fuhrtreck in Beschlag nahmen.
    Hektik breitete sich wie Fieber aus, als es nun hieß, sie möchten in die Wagen steigen und auf weitere Anweisungen warten. Russische Befehle flogen durch die Luft, von denen niemand ein Wort verstand, aber das Drängeln und Fluchen war aus dem grimmigen Tonfall zu vernehmen.
    Christina gab sich keine Mühe, Eile auch nur vorzutäuschen. Lustlos schlenderte sie zu dem Wagen, den Eleonora besetzt hielt, und schleuderte ihr Bündel zum Gepäck, das sich im rückwärtig angebrachten Kasten der offenen Kutsche stapelte. Ein einzelner, altersschwach wirkender Gaul war vor den Wagen gespannt. Schläfrig zupfte er am trockenen Gras und schüttelte die Zottelmähne.
    »Willst du nicht lieber zu Matthias?«, rief Eleonora ihr zu. »Er sitzt im Wagen vor uns. Wir sind hier mit Klara und Sophia schon genug Last für das Pferd …«
    Christina holte ohne eine Antwort ihren Ranzen. Eleonora sah, wie sie einen Blick zu Daniel warf, der gerade galant einem pferdegesichtigen Fräulein, das mit den Eltern reiste, in den von ihm und Sebastian besetzten Wagen half.
    Betont gleichmütig schlenderte Christina zu Matthias, der sein Gepäck verstaute. Er reichte ihr die Hand, um sie nach oben zu ziehen.
    Rufe hallten die lange Reihe der Fuhrwerke entlang, Menschen liefen hin und her, geschnürte Leinensäcke flogen durch die Luft, die Pferde wieherten, die Soldaten, die auf ihren Rössern den Treck umkreisten, bellten Anweisungen, die niemand beachtete. Es zog sich über mehrere Stunden hin, bis alle zur Abfahrt bereit waren.
    Es gab weder Kutscher noch Lenkleinen für die Pferde. Klara und Sophia saßen mit angespannt durchgedrücktem Rücken neben Eleonora, während sie darauf warteten, dass es losgehen würde.
    Da erschallten ein Befehl – »Vperjod! Potoraplivajsja!«  – und ein lauter Peitschenknall, und der Gaul vor Eleonoras Fuhrwerk setzte sich in Bewegung, als hätte er nur darauf gewartet. Die Pferde blieben tatsächlich sich selbst überlassen, folgten mit nickendem Kopf dem Wagen, der vor ihnen fuhr, geduldig und genügsam und die schwere Peitsche offenbar zu gut gewöhnt, um nur einen Schritt aus der Spur zu weichen.
    Eleonora drückte Klaras Hand, während Sophia auf ihrem Sitz hin und her hüpfte und »Hüa!« rief.
    »Bald haben wir es geschafft«, tröstete Eleonora die jüngere Schwester.
    Klara nickte, und Eleonora bemerkte, dass sie mit den Tränen kämpfte.
    »Alles gut, Klara?«
    »Helmine hat gesagt, ihr wolltet uns im Stich lassen. Was wäre aus Sophia und mir geworden, wenn ihr nicht zurückgekommen wärt?«
    Eleonora zuckte zusammen. »Du sollst doch nicht alles glauben, was Helmine dir erzählt«, sagte sie. »Weißt du denn nicht selbst, dass ich dich und Sophia niemals alleinlassen würde? So gut müsstest du mich kennen. Du bist alt genug …«
    Klara senkte den Kopf. »Doch, schon. Aber ich war so mutlos …«
    Eleonora strich ihr über den Scheitel. »Wir sind nach Petersburg gefahren, um unsere Verwandten zu finden – vielleicht hätten wir uns, wenn wir Erfolg gehabt hätten, die Weiterreise erspart. Aber, wie du weißt, sind wir überfallen worden, und ich war lange bewusstlos …« Sie schluckte. »Wenn es nach dem Arzt gegangen wäre, hätte ich weitere zwei Wochen liegen und mich auskurieren müssen. Aber ich habe gedrängt, weil ich wusste, wie sehr ihr euch sorgt und dass der Treck weiterziehen muss.«
    »Hast du noch Schmerzen?«
    »Es ist auszuhalten. In meinem Kopf pocht es, die Wunde brennt, und hin und wieder wird mit schwindelig. Drück die Daumen, dass ich mich bei dem Geruckel nicht übergeben muss!« Sie

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