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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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nicht durchstehen, Nikolaj. Schaut Euch meine Schwester an! Glaubt Ihr, sie wird, wenn sie überhaupt wieder die Augen aufschlägt, so rasch genesen? Wenn wir an die Wolga ziehen, bedeutet das ihren sicheren Tod. Wollt Ihr das verantworten?«
    Nikolaj blickte von ihr zu Eleonora mit dem schneeweißen Gesicht und den nun stumpfen schwarzen Haarsträhnen, die an einem Sommerabend an den Ufern der Newa schimmern mochten wie die einer Nixe.
    »Hier bleiben wollt Ihr? Wie stellt Ihr Euch das vor?« Er betrachtete Christina und strich mit den Fingerspitzen ein paar Locken aus ihrer Stirn.
    »Es wäre nicht für lang. Nur für den Anfang, bis wir hier Fuß gefasst haben. Vielleicht, bis wir unsere Verwandten aufgespürt haben. Vielleicht, bis wir Anstellung gefunden haben. Ach, ich bitte Euch, Nikolaj, gebt Eurem Herzen einen Stoß und helft uns!« In Christinas Blick lag so viel Flehen, dass Nikolaj nicht anders konnte, als sich hinabzubeugen und ihre Lider zart zu küssen.
    »Ihr seid wunderschön«, flüsterte er dabei und senkte seinen Mund auf Christinas Lippen, als sie das Gesicht hob und ihm entgegenkam.
    Während sie Nikolajs Zärtlichkeiten erwiderte, erwachte jede Faser ihres Körpers zu neuer Lebendigkeit.
    Sie küssten sich wild und hungrig, bis sie sich schwer atmend voneinander lösten. »Wir werden unvergessliche Tage miteinander verbringen«, flüsterte Christina mit einem verheißungsvollen Lächeln. »Ihr sollt es nie bereuen, dass Ihr uns gerettet habt.«
    In diesem Moment wähnte sich Christina am Ziel all ihrer Wünsche. Nikolaj war wie Wachs in ihren Händen und ganz offensichtlich ein erfahrener Liebhaber. Sie würde stöhnen und seufzen, wenn er zu ihr kam – ihr Glück hinausschreien und niemals mehr einen Gedanken verschwenden an die engstirnigen hessischen Bauern, die quer durch die russische Wildnis wie Schafböcke zum Schlachthaus getrieben werden sollten.
    Zwei Tage später wachte Eleonora endlich auf und zertrümmerte mit den ersten Worten, die über ihre Lippen drangen, Christinas Hoffnungen.
    »Sophia«, hauchte sie. »Wo ist Sophia?«
    Nicht nur Nikolaj, Mascha und Christina befanden sich im Schlafgemach, sondern auch der Arzt Michail Daschkow. Christina hatte er bereits untersucht und dabei die Stirn in Falten gelegt.
    Als nun Eleonora sich regte, eilte er zu ihr und ließ sich mit durchgedrücktem Kreuz seitlich auf dem Bett nieder. Christina beobachtete ihn, bemerkte, wie bezaubert er von ihrer Schwester war, die wie eine Märchenfigur in den Laken lag.
    »Da seid Ihr ja«, sagte er leise und lächelte auf sie hinab. »Könnt Ihr mich verstehen?«
    Eleonoras Augen weiteten sich, während sie versuchte zu erkennen, mit wem sie es zu tun hatte.
    »Liebste Schwester … Eleonora …« Christina drängte sich vor den Arzt und umfasste das Gesicht ihrer Schwester mit beiden Händen. Sie küsste sie auf die Stirn. »Du lebst!«
    Eleonora versuchte, sich ein wenig aufzurichten, sackte aber kraftlos zurück in die Kissen. »Christina … wo … wo sind wir? Wo ist Sophia?«
    »Wir sind in Sicherheit Eleonora. Nikolaj hier und seine reizende Schwester sind so freundlich, uns zu beherbergen …«
    »Ich will zu meinem Kind.« Jetzt schaffte es Eleonora, sich auf die Ellbogen zu stützen. Ihr Blick ging von Christina zu dem Arzt, zu Nikolaj und dessen Schwester, die am Fußende des Bettes schweigend warteten.
    Christina nahm beide Hände ihrer Schwester in die ihren und starrte sie beschwörend an. »Du musst noch lange schlafen«, sagte sie. »Damit du wieder ganz gesund wirst. Du bist verwirrt, Eleonora. Wir sind überfallen worden, haben einen Schlag auf den Kopf bekommen, du liegst hier seit vielen Tagen … Ruh dich aus, bis du dich besser fühlst. Dann werden wir überlegen, wie es weitergeht. Nikolaj und Mascha sind Freunde, Eleonora. Wir sind nicht allein.«
    Nikolaj räusperte sich unbehaglich, und Christina hörte, wie auf Russisch geflüstert wurde. Ihr Herz schlug ein paar Takte schneller, während sie auf ihre Schwester einredete und inständig hoffte, Eleonora würde wieder einschlafen und lange genug schweigen, bis niemand mehr auf die törichte Idee kam, sie könnten sich dem Wandertreck nach Saratow noch anschließen.
    Alles war doch so einfach, so perfekt! Sie ließen die anderen ziehen und begannen hier in Sankt Petersburg ihr neues Leben.
    Eleonora schüttelte den letzten Rest Benommenheit ab. Auf ihrer Stirn bildeten sich Falten, während sie die Anwesenden betrachtete.

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