Weiße Nächte, weites Land
einquartiert werden, falls wir bis Oktober nicht angekommen sind.«
Bernhard wandte Anja das Gesicht zu. »Um den Winter abzusitzen und erst im Frühjahr wieder aufzubrechen? Das möge Gott verhindern! Ich bin die Reise satt.«
Sie lächelte schief. »Wer nicht? Wir können von Glück sagen, dass unsere Freunde und Angehörigen bis hierher überlebt haben. Wir Waidbacher haben noch keinen Verlust zu beklagen. Bei den anderen sind Trauer und Leid groß. Manch einer, dem Frau und Kinder genommen wurden, hat schon jetzt jeden Mut verloren.«
Bernhard sah ihr in die Augen, als suche er darin nach der Wahrheit. »Wie geht es dir mit deinem Mann?«, fragte er leise.
Anja machte eine abfällige Handbewegung. »Ich weiß nicht, welche Pläne er hegt, aber er umwirbt mich wie ein Pfau bei der Balz.«
Bernhard lächelte sie an. »Vielleicht hat er sein Herz an dich verloren? Spät, aber nicht zu spät, oder?«
»Doch, zu spät«, gab Anja ruppig zurück. »Ich glaube ihm kein Wort, und ich könnte ihm niemals mehr wieder vertrauen. Was er mir angetan hat …« Sie stieß die Luft aus, als wollte sie die quälenden Erinnerungen ausspeien. »Es ist vorbei und vergessen«, behauptete sie, »und wenn alles so läuft, wie ich es mir vorgenommen habe, werde ich ihn in wenigen Tagen zum letzten Mal neben mir ertragen müssen.«
Bernhard wirkte nicht überrascht, als wüsste er, dass Anja eigene Pläne verfolgte. Dabei hatte sie mit ihm nicht darüber gesprochen, wovon sie wirklich träumte. »Sankt Petersburg liegt weit hinter uns …«
»Aber Moskau liegt noch vor uns«, gab sie zurück. »Wenn wir auf der Höhe von Moskau sind, werde ich mein Glück versuchen. Vielleicht ist mir der Herrgott gnädiger als den Weber-Schwestern. Eleonora hat mir erzählt, wie Christina die Wachen bestochen und überredet hat. Das will ich auch versuchen, und vielleicht, vielleicht …«
Bernhard nickte. »Ich wünsche dir alles Glück der Welt, Anja«, sagte er leise. »Aber … ich werde dich vermissen.«
Anja verbarg mit dem Ärmel ihr Gesicht, als sie den Kopf senkte. Das Feuermal sah er Tag für Tag, wie heftig sie nun errötete, musste er aber nicht mitbekommen.
Als die Schiffe einige Tage später hinter Dubna anlegten, damit der Kapitän des sie begleitenden Proviantschiffes die Fässer mit Frischwasser und die Zwiebackvorräte auffüllen konnte, nahm Anja all ihren Mut zusammen und sprach den jungen Soldaten mit den Pockennarben an, den sie ein paar Wörter Deutsch hatte reden hören. Seine Augen blitzten, als sie auf ihn zukam, um seine fleischigen Lippen, die an einen Karpfen erinnerten, zuckte ein Grinsen. Er hob das Kinn, als sie ihn ansprach und ihr Anliegen vortrug.
Ob er sich wohl ein paar Rubel verdienen wolle, und auf sie komme es doch nun wirklich nicht an. Zur Bäuerin an der Wolga eigne sie sich nicht, aber als Apothekerin könne sie seinen Landsleuten von höchstem Nutzen sein. Er würde sich um sein wunderbares Land verdient machen, wenn er ihr nur helfe. Alles, was sie brauche, seien ein Pferd und zehn Minuten Unachtsamkeit, wenn sie sich auf den Weg in die alte Hauptstadt begebe.
Der Soldat verzog angewidert das Gesicht, während er Anja betrachtete, wie sie mit Engelszungen auf ihn einredete, aber seine Miene leuchtete auf, als sie das Säckel unter ihre Schürze hervorzog und mit den Münzen klimperte.
Sie hatte das Gefühl, ihre Kehle werde bei jedem Wort, das sie sprach, enger. Sie sah mit ihrem Herzen die Gefühle dieses jungen Mannes. Ein Leben als Verunstaltete am Rande der Dorfgesellschaft hatte sie empfindsam gemacht für die verletzenden Gedanken der anderen. Wie Stiche schmerzte der Ekel des Kerls, und es wurde nicht besser, als seine Gier auf das Geld erwachte.
Vor Erbitterung verzog Anja die Mundwinkel, während sie das Säcklein in ihrer Hand wog und voll Ungeduld darauf wartete, dass der Russe auf ihren Handel einging.
Lass es nicht an dich heran!, dachte sie. Es zählt nur, dass er dir hilft. Alles andere verliert an Bedeutung, wenn du endlich auf dem Weg nach Moskau bist. Sie konnte sich vorstellen, welch leichtes Spiel eine Schönheit wie Christina Weber mit dem Soldaten gehabt hätte. Wahrscheinlich hätte sie der Handel nicht eine Kopeke gekostet.
Anja hielt den Atem an, als sich die mit dünnen schwarzen Haaren bedeckten Finger des Soldaten endlich dem kleinen Schatz in ihrer Hand näherten. »Daj sjuda!«, zischte er. Was mochte er sich denken? Hatte er Weib und Kinder, an deren
Weitere Kostenlose Bücher