Weiße Nächte, weites Land
Mit zwei Fingern griff sie sich an die Schläfe und rieb sie.
Christina machte dem Arzt Platz, der nun Eleonora Fragen stellte. Eleonora versicherte ihm, dass es ihr gar nicht so schlecht gehe. Zwar spüre sie starke Kopfschmerzen und eine leichte Übelkeit, aber sie wünsche, aufzustehen und noch in dieser Stunde zu ihrer Tochter zu fahren.
Ein Lächeln trat auf die ebenmäßigen Züge des Arztes. »Ich kann es nicht gutheißen, wenn Ihr gleich aufbrechen wollt. Eurer Genesung wird es nicht zuträglich sein. Unter anderen Umständen würde ich euch dringend empfehlen, mindestens zwei Wochen Bettruhe zu halten. Aber ich sehe, wie sehr Ihr Euch nach Euren Lieben sehnt und dass Ihr jeden ärztlichen Rat in den Wind schlagen würdet.«
»Ich kann nicht hier bleiben«, erwiderte Eleonora, als sei es das Selbstverständlichste der Welt. »Meine Tochter wartet auf mich. Und meine jüngere Schwester.« Sie suchte Christinas Blick. »Wir können sie doch nicht alleinlassen.« Ihr letzter Satz war mehr fassungslose Frage als Feststellung.
Christina presste die Lippen aufeinander.
»Wir hätten sie später, wenn du ganz genesen bist, zu uns holen können«, zischelte sie. »Ich verstehe dich nicht, Eleonora. Du setzt deine Gesundheit aufs Spiel. Eine tote Mutter nützt deiner vergötterten Sophia wenig.«
Mit erhobener Stimme unterbrach sie der Arzt. »Eure Pläne in allen Ehren, junge Dame«, begann er. »Aber wie denkt Ihr Euch das mit Eurem eigenen Kinde? Soll es in diesem Haus zur Welt kommen oder nicht doch in der Nähe des Vaters?«
Erschüttertes Schweigen breitete sich in dem Schlafgemach aus.
»Du erwartest ein Kind?«, hauchte schließlich Eleonora.
»Du hast es gehört«, stieß Christina hervor und erwog einen Moment lang ernsthaft, sich aus dem Fenster auf den belebten Newski-Prospekt zu stürzen.
Sie fühlte Nikolajs brennenden Blick in ihrem Nacken, erkannte in Eleonoras Augen Unglauben und Erstaunen. Und in ihr tobte ein Sturm, der sie auszuhöhlen drohte. Dieses verfluchte Kind.
Zum Abschied dann streifte Nikolajs warmer Atem ihren Hals, als er sie in die Arme zog. »Ihr seid hinreißend«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Aber mit dem Kind, das in Euch wächst, gehört Ihr an die Seite Eures Mannes. Ich wünsche Euch den Himmel auf Erden.«
Während die Landschaft im warmen Schein der Abendsonne an ihr vorbeizog, streichelte Christina den seidigen Stoff des Kleides, das Mascha ihr geschenkt hatte. Wie wundervoll hatte es in die Stadtwohnung an der Prachtstraße gepasst, und wie fehl wirkte es auf diesem rumpelnden Kutschbock.
Matthias neben ihr in seiner russischen Kutte starrte dumpf vor sich hin, während der Gaul dahintrottete und die Kolonne sich wie ein Wurm durch die Wälder und Dörfer bewegte.
Ein paar Wagen vor ihnen sah Christina Daniel, neben sich den schmollenden Sebastian und dieses Mädchen mit den großen Zähnen, das bei jedem zweiten Satz des Zeugmachers wieherte. Ganz offensichtlich verstanden sich die beiden prächtig, aber welche Frau ließe sich nicht von seinen amüsanten Geschichten und seiner springlebendigen Art gefangen nehmen?
Mit mürrisch verschlossener Miene standen manchmal Bauern mit ihren runden Mützen und im Nacken gebundenen Kopftüchern am Wegesrand und stierten ihnen nach.
Über dem Land schien eine Melancholie zu liegen, die jeden erfasste, der es durchstreifte. Die Wolken hingen tiefer und schwerer als anderswo auf der Welt, die Fichtenwälder waren dunkler, die Weizenfelder trockener, das Vieh behäbiger. Das gedämpfte Tockern der Pferdehufe begleitete sie, hin und wieder flog ein Schwarm Krähen auf, als wolle er sie krächzend zur Umkehr bewegen.
Die Luft war erfüllt vom Harzgeruch der Wälder. In den Dörfern mischte sich der Rauch darunter, der aus den Schornsteinen stieg, und manchmal der Duft nach über offenem Feuer geröstetem Fleisch.
Im immer gleichen Rhythmus zogen die Gäule die Menschen auf ihren Fuhrwerken Meile um Meile tiefer hinein in dieses unbekannte Land, das ihre neue Heimat werden sollte. Von einem Dorf zum nächsten fühlte Christina, wie die Erinnerung an das Paradies, von dem sie kosten durfte, verblasste.
Sie war wieder unter ihresgleichen, inmitten ihrer Landsleute, ihrer Familie, ihrer Freunde aus Kindestagen.
Allem Anschein nach war das ihr Schicksal.
Sie wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel.
Matthias sah sie an, eine Braue hochgezogen. »Eine Fliege?«
Christina schob die Unterlippe vor und wandte ihr Gesicht
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