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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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ab.

21. Kapitel
    D ie Tage auf den Kutschen vergingen im gleichmäßigen Trott, und so mancher rieb sich das Gesäß, das vom stundenlangen Sitzen auf den harten Brettern schmerzte.
    Gegen Abend rasteten sie in den Dörfern am Weg, richteten sich in armseligen Herbergen und Holzhütten ein oder bereiteten sich mit Decken, Ästen und Heu Nachtlager unter den Wagen.
    Immer häufiger hörte man jetzt die alten Leute husten, manche lagen mit Fieber danieder, viele bibberten im Schüttelfrost, aber es gab weder ärztliche Betreuung noch Medikamente.
    Apothekerstochter Anja war machtlos, wenn die Leute klagten – wo sollte sie die dringend benötigten Salben und Tinkturen hernehmen? So wies sie die Kranken unwirsch von sich, nicht ohne das Versprechen, sich in der nächsten größeren Stadt nach Heilmittel umzuschauen.
    Am meisten setzte es Anja zu, dass sie der kleinen Frieda nicht helfen konnte. Das Kind hustete sich schier die Seele aus dem Leib, sein Gesicht verfärbte sich immer wieder vor Atemnot bläulich, bevor Frieda japsend das Mündchen öffnete und rasselnd die Luft einsog.
    Veronica und Adam taten in der Nacht kaum noch ein Auge zu aus Angst, das Kind könnte an einem Hustenanfall ersticken.
    Adam war nur noch ein Schatten seiner selbst. Um seine schmalen Lippen hatte sich ein weißer Kranz gebildet.
    Die großgewachsene, kräftige Veronica ging gebeugt, mit hängenden Schultern und baumelnden Armen, die Augen beständig angstvoll aufgerissen. Keine Sekunde ließ sie ihre Tochter unbeaufsichtigt, und sie legte sie an ihre üppige Brust, wann immer sie rasteten. Doch das Kind schrie und warf den Kopf hin und her, ohne von der nährenden Mutterbrust zu trinken.
    Anja versuchte, Friedas Köpfchen zu halten, tupfte Tropfen der Muttermilch lockend auf die Kinderlippen. Doch die Kleine magerte ab, und die anderen Waidbacher drehten die Köpfe weg, wenn der dünne Körper erneut von einem Erstickungsanfall geplagt wurde. Sie wussten, was die Eltern nicht wahrhaben wollten: Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie das winzige Grab ausheben mussten.
    In der Nähe der Stadt Nowgorod verteilten die Soldaten die Kolonisten auf eine lange Flotte von Schiffen, um die Reise auf dem Fluss Msta fortzusetzen. Nach etlichen Tagen wurden sie wieder ausgeschifft, und auf Wagen ging es weiter bis an den Fluss Twerza, der sich bei Twer in die Wolga ergoss.
    Zwar staunten alle, wie viel Aufwand die Zarin betrieb und wie gut der Treck organisiert war, aber es ging weiterhin, nun wieder auf Schiffen, nur im Schneckentempo voran. Mal bummelten morgens die Soldaten, als befänden sie sich auf einer Vergnügungsfahrt, mal hielten sich die Kapitäne zu lange in den an den Flüssen liegenden Dörfern auf, um Proviant zu besorgen.
    »Meinst du, wir erreichen unser Ziel noch vor dem Winter?«, erkundigte sich Anja bei Bernhard, der mit dem Rücken gegen die Bootswand an Deck der Barke saß und mit seinem Messer Scheiben von einem Kanten Speck absäbelte. Er reichte Anja ein Stück, und sie biss hungrig hinein, während sie sich neben ihm niederließ.
    »Ich hoffe es. Ich mag mir nicht ausmalen, wie es uns ergeht, wenn Väterchen Frost über uns hereinbricht.« Er schob sich eine Speckscheibe in die Wangentasche und lutschte daran.
    »Ich glaube nicht, dass wir bei Eiseskälte weiterreisen. Wie soll das gehen, wenn die Flüsse zufrieren? Und der Landweg wird nach dem ersten Schnee lebensgefährlich«, erwiderte Anja und hielt sich die Hand vor die Augen, um sie gegen die gleißende Junisonne zu schützen. Die Luft war erfüllt vom intensiven Duft der Kiefern und Fichten, die in dichten Wäldern das Flussufer säumten, nur hin und wieder unterbrochen von Ansammlungen einfacher Holzhütten oder von Feldern, auf denen Leibeigene in ihrer ärmlichen Kleidung die Sense schwangen. Ab und zu blitzte zwischen den Bäumen die zartgelbe oder silbergraue Fassade eines herrschaftlichen Anwesens auf.
    Immer wieder sahen sie buntverzierte Zwiebeltürme golden im Sonnenlicht glänzen, von Menschenhand geschaffene Kunstwerke hoch über den Baumwipfeln.
    An manchen Stellen war der Fluss so breit, dass Häuser, Menschen und Vieh aus der Entfernung wirkten wie Spielzeug – unwirklich und fremd.
    Manchmal zappelten zerlumpt wirkende Kinder am Ufer, winkten, riefen und stolperten auf nackten schwarzen Füßen eine kurze Strecke neben den Barken her, während sie Steine und Stöcke in die Strömung warfen.
    »Ich habe gehört, dass wir bei russischen Bauern

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