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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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Versorgung ihm lag? Oder träumte er gerade in diesem Moment von drei willigen Weibern und Wodka bis zum Umfallen?
    Eine Antwort darauf sollte Anja nie bekommen, denn beide schraken zusammen, als auf sie der Schatten eines Mannes fiel, der den jungen Soldaten um mindestens einen halben Kopf überragte. »Eto tschto sdes’ takoje?« Der Neuankömmling hatte braune Augen unter fingerdicken Brauen und durchschaute die Situation sofort. Er schnauzte den offenbar Untergebenen so heftig an, dass Anja Spucketropfen ins Gesicht flogen. Der junge Soldat duckte sich und riss die Schweinsäuglein auf wie ein kleiner Junge, der mit den Fingern am Butterkuchen erwischt wurde. Er verbeugte sich mehrmals, murmelte eine Flut von Entschuldigungen und beeilte sich, aus der Gefahrenzone zu kommen.
    Mit einem Kopfrucken wies der Vorgesetzte Anja an, zurück aufs Schiff zu gehen.
    Nach diesem Vorfall blieb sie nicht einen Moment mehr unbewacht.
    Wo sie ging und stand, befanden sich stets mindestens zwei Soldaten in Zugriffsnähe, als wäre sie eine hochgefährliche Strafgefangene.
    Panik breitete sich in Anja aus, als die Schiffe wieder ablegten und an den von wildem Ginster gesäumten Ufern entlang weiter gen Osten fuhren, wo die Wolga irgendwann eine Krümmung zum Süden hin machen würde, um die Kolonisten zu ihrem Bestimmungsort zu bringen. Weit und weiter weg von Moskau, auf das Anja all ihre Hoffnungen gesetzt hatte.
    Als sie sich endlich eingestand, dass ihr Plan fehlgeschlagen war und sie genau wie die Weber-Schwestern und alle anderen Frauen zu einem Leben als Bäuerin verdammt sein würde, nahm es ihr fast den Atem.
    Sie stand an Deck, mit dem Rücken gegen die Reling gelehnt, und griff sich an die Brust, die ihr eine Eisenfaust zusammenzudrücken schien. Sie öffnete den Mund, um japsend Luft zu holen, keuchte und hustete und glaubte, in der nächsten Sekunde die Besinnung zu verlieren. Da fühlte sie zwei weiche Hände an ihrer Taille. Als sie Franz erkannte, wandte sie sich abrupt von ihm ab, um sich über die Schiffswand in die tiefblauen Wellen der Wolga zu übergeben.
    Krämpfe schüttelten sie, und es wurde nicht besser dadurch, dass sie die weiche Hand nun wie totes Fleisch auf ihrem Rücken fühlte. Lass mich, geh endlich!, dachte sie, aber Franz glaubte ganz offensichtlich, er könnte ihr irgendein Trost sein.
    Wenn nur Bernhard bei ihr wäre … Aber der kümmerte sich um seine Familie: um seine Mutter, die als Einzige Tag für Tag gesünder zu werden schien, um seine spitzzüngige Schwester, der man nicht über den Weg trauen konnte, und um den schwachsinnigen Alfons, der mit überirdisch wirkender Freude und einer schier unerschöpflichen Kraft diesen Weg ging.
    Die gestohlenen Plauderstunden mit Bernhard waren ihr einziger Trost. Und sonst? Sonst hatte sie Franz an den Hacken, der nicht müde wurde, ihr lästig zu fallen, und in dessen Schädel Dinge vorgingen, die sich ihr völlig entzogen.
    Was bezweckte er bloß mit dieser Schmierenkomödie? Denn nichts anderes war sein Verhalten, davon war Anja überzeugt. Wie stellte er sich das Leben an der Wolga vor mit ihr? Glaubte er allen Ernstes, sie würde ihm ein Weibchen werden, das ihm abends nach der Feldarbeit die Blini vorsetzte und ihm nachts im Bett die Füße und was auch immer wärmte?
    Bei diesem Gedanken stieß Anja die Luft aus und schoss Franz, der sich immer noch dicht an ihrer Seite hielt und besorgt ihre Miene verfolgte, einen so zornigen Blick zu, dass der Knecht zusammenzuckte.
    »Was willst du?«, fuhr sie ihn an.
    Franz seufzte, wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn und vertrieb mit Pusten und Wedeln die unzähligen Fliegen, die sie umschwirrten. »Trösten will ich dich. Es geht dir nicht gut.«
    »Richtig, Franz Lorenz, es geht mir nicht gut, und dazu trägst du einen beträchtlichen Anteil bei. Ich verstehe nicht, warum du das nicht siehst. Warum lässt du mich nicht in Frieden?«
    »Wir sind verheiratet«, erwiderte er mit einem Schulterzucken und einem Blick aus Welpenaugen.
    »Es war ein Handel«, zischte sie. »Reicht dein Hirn nicht aus, um das zu kapieren?«
    Die leichte Brise, die ständig über den Fluss wehte, trug den fauligen Geruch von Abfall und Unrat der Gerber und Seifensieder mit sich, die in den armseligen Dörfern ihrem Handwerk nachgingen. »Es sollte ein Handel sein«, widersprach er. »Aber auf den habe ich mich nicht eingelassen. Als ich dich gefragt habe, ob du mich heiraten willst, da warst du … da warst

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