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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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Soldaten sich den Bauch vor Lachen hielten, merkte Anja, wie sie mit den Zähnen mahlte. Der Korb glitt aus ihren Händen, und die Früchte rollten in das trockene Gras.
    In Anjas Augen brannte Hass. Sie raffte die Röcke, hörte noch das »He …« hinter sich und stürzte sich im nächsten Moment auf Boris, um ihm die Fingernägel in die Wangen zu bohren und sein Gesicht zu zerkratzen. Sie trat und biss und schlug, was immer sie traf. Der Soldat – obwohl ihr kräftemäßig weit überlegen – war viel zu überrumpelt, um reagieren zu können. Er schrie vor Schmerzen auf, fluchte und schnauzte seine Kameraden an, sich zu bemühen, die vor wildem Zorn tobende Frau von ihm herunterzuzerren. Sein Gesicht war von blutigen Kratzern übersät, sein linkes Lid schwoll bläulich an, aus seiner Nase floss ein schwarzrotes Rinnsal, als er die Fäuste ballte und die Schultern hob. Er schob den Unterkiefer vor und gab einen Laut wie ein tödlich verletzter Wolf von sich, während er auf Anja, die nun von seinen Kameraden an den Armen gehalten wurde, zustapfte.
    Doch Franz sprang mit einem Satz vor seine Frau, und wie aus dem Nichts tauchten neben ihm sein Bruder Matthias, Daniel Meister, Flickschuster Bernhard und weitere Männer der Kolonistentruppe auf.
    Der Kampf hatte alle Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Wie verfeindete Truppen auf dem Schlachtfeld standen sich die russischen Soldaten und die Kolonisten gegenüber. Jede Partei wartete, dass der Gegner den ersten Schlag tat. Aber dazu kam es nicht, denn gleich drei Kommandanten eilten mit dem Gewehr im Anschlag herbei. Barsch klangen ihre Befehle in der Luft. Sie drängten die Kolonisten unsanft in Richtung Landungssteg, damit sie die Schiffe wieder bestiegen, und riefen die Soldaten ruppig zur Ordnung.
    Keiner achtete mehr auf die Urheberin des Kampfes.
    Anja eilte zu dem Hund, der winselnd hinter dem Ginster hockte und sich den Bauch leckte. Da, wo ihn die Stiefelspitze getroffen hatte, klaffte eine blutende Wunde im verklebten Fell, nicht tief, aber gewiss schmerzhaft.
    Anja streckte dem Hund ihre Rechte hin, beobachtete sein Gesicht, sah die Angst in den hellbraunen Augen, spürte sein Zittern, als sie sacht über das struppige Bauchfell strich.
    Was für ein treuer kleiner Kerl, dachte Anja. Wird getreten, immer und immer wieder, und verliert doch den Glauben an die Menschen nicht. Sie sprach gedämpft auf ihn ein, und als sie ihn hochhob, um ihn zum Schiff zu tragen, ließ er es geschehen.
    »Kein Mensch wird dich jemals wieder enttäuschen«, flüsterte Anja an sein spitz aufgerichtetes Ohr, so ernsthaft, als spräche sie einen Schwur.
    Niemand hielt sie auf, als sie mit dem zotteligen Tier auf den Armen das Deck des Flussschiffes betrat.
    Zwischen einem Berg von zusammengerollten Tauen und der Schiffswand setzte sie ihn behutsam ab und strich ihm über Kopf und Hals, bis er begann, ihre Hand zu lecken.
    Als Franz mit dem Früchtekorb hinter ihr auftauchte, räusperte sie sich. »Holst du mir eine Decke und ein paar Stoffstreifen? Und sieh zu, dass du irgendwo was zu fressen für ihn findest.«
    Franz kniete sich neben sie. »Was willst du mit ihm tun?«
    Anja sah ihm fragend ins Gesicht. War das nicht offensichtlich? »Ich werde ihn behalten«, antwortete sie.

22. Kapitel
    Juni 1766, auf der Wolga
    L ambert, wie Anja den Mischlingshund getauft hatte, entwickelte sich zum Liebling der Kinder an Bord. Die ersten Tage fraß und schlief er sich gesund, später tollte er mit den Kleinen auf den Schiffsplanken herum, als wäre er mit ihnen aufgewachsen. Niemals schnappte er oder fletschte die Zähne, dafür freute er sich schwanzwedelnd über jeden Happen, den sie ihm zuwarfen, und ließ sich mit heraushängender Zunge in der Mittagshitze kraulen.
    Franz schnitzte aus einem dünnen Buchenholzscheit einen Kamm, mit dem Klara und Sophia dem Hund hingebungsvoll das Fell bürsteten, bis es von allen Flechten und Ungeziefer befreit war und honiggolden in der Sonne glänzte.
    »Lambert ist der schönste Hund der Welt«, behauptete Sophia und legte den Kopf schief, während sie ihm ein paar Haare in die Stirn kämmte.
    »So viele Hunde hast du noch gar nicht gesehen, um das beurteilen zu können«, widersprach Klara und nahm ihr den Kamm ab, um selbst das Fell zu bearbeiten.
    »Bestimmt ist er verzaubert«, fuhr Sophia fort, legte die Arme um Lambert und drückte die Wange an seinen Hals. An das Tier gekuschelt, schloss sie die Augen.
    Mit wedelnden Armen und einem wie

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