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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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du meine letzte Rettung. Und du hast mich nicht im Stich gelassen. Dafür werde ich dir ewig dankbar sein.«
    »Ich spucke auf deine Dankbarkeit, Franz Lorenz!«, stieß Anja hervor. Ihre Hand fuhr zu ihrem Herzen, das ihr kalt und hart wie Marmor vorkam.
    Franz nickte mehrmals, als nähme er die erbarmungslosen Worte seiner Frau wie eine gerechte Strafe an. Fehlte bloß, dass er sich bekreuzigte und »Amen« flüsterte. Es brachte Anja schier zur Weißglut. Aber besser dieser rasende Zorn auf ihren törichten Gatten als der verzehrende Schmerz darüber, dass alles verloren war. Dubna hätte das Tor zu ihrer Freiheit sein können, und nun lagen dort ihre Träume begraben.
    »Vielleicht, wenn wir irgendwann Kinder … Zwei Buben, zwei Mädchen …«, begann Franz ungelenk.
    Anja wirbelte herum und stürzte die Stiege zu ihrem Lager unter Deck hinunter. Sie warf sich auf die Decke, eingezwängt zwischen den anderen, und schluchzte in den moderig riechenden, kratzigen Wollstoff, bis sie keine Tränen mehr hatte.
    Niemand beachtete sie. Zum Heulen war hier den meisten zumute.

    Anja ahnte nicht, wie sehr die Schmach noch in ihr gärte, als sie eine Woche später erneut an Land gingen, wo sich die Kolonisten unter strengster Bewachung durch die Soldaten in einem Dorf die Beine vertreten durften. Offiziell hieß es, die Soldaten seien zu ihrem Schutz abbestellt, aber fast alle wussten es besser.
    Je weiter es voranging, desto stärker wuchsen die Zweifel daran, ob es richtig war, sich dieser Strapaze auszusetzen.
    War es das Geld, waren es die Zuwendungen durch die Zarin wert, dass sie immer wieder Freunde und Verwandte begraben und ständig um die eigene Gesundheit bangen mussten?
    Wären die Chancen für ihre Zukunft nicht besser, wenn sie das Unternehmen abbrachen und auf eigene Faust den Rückweg antraten?
    Was erwartete sie in ihrer neuen Heimat?
    Ob sie schmuck ausgestattete Bauernhäuser beziehen durften, die sie nur mit Leben zu füllen brauchten? Vielleicht, und nicht wenige träumten davon, hatte die Zarin für ihre deutschen Landsleute einen Hauch von Luxus arrangiert. Vielleicht standen ehemals blühende Gutshäuser inmitten weitläufiger Ländereien leer, die nur darauf warteten, dass sie wieder mit Fleiß und Weitsicht bewirtschaftet wurden?
    Solche Tagträume waren es, die Anja und viele andere davon abhielten, sich aufzugeben und auf den erlösenden Tod zu warten.
    Ohne Freude erstand Anja – von Franz wie von einem Schatten verfolgt – auf dem Marktplatz des Hüttendorfes von einem Bauernweib einen Korb Süßkirschen, die nicht größer waren als Vogelkirschen, aber herrlich schmeckten, dazu ein paar Gurken und eine Zuckermelone.
    Unter den wachsamen Blicken mehrerer Soldaten trug sie Früchte und Gemüse zum Schiff und hoffte, dass sie sich nach den Salzheringen und dem Trockenbrot, von dem sie hauptsächlich lebten, daran ein paar Tage lang erquicken konnte.
    Dem artigen Sebastian, der Stunde um Stunde mit seinem Freund Daniel an der Reling stand und sich von ihm die fremdartige Welt erklären ließ, würde sie eine Handvoll Kirschen schenken. Sie mochte den Jungen, der so aufgeweckt und wissbegierig war und der niemanden hatte, zu dem er gehörte.
    Auch Sophia würde sie ein Stück Melone ins süße Mündchen stecken. Dass ein Kind eine solche Reise mit solcher Unbekümmertheit durchstehen konnte … Aber kein Wunder, ihre Mama las ihr jeden Wunsch von den Augen ab …
    Anja blieb stehen, und Franz hinter ihr wäre fast gegen ihren Rücken geprallt. Sie starrte auf die drei Soldaten, die am Landungssteg saßen und vor Lachen brüllten.
    Als sie die Augen gegen die gleißende Hochsommersonne beschattete, entdeckte sie den Grund der Erheiterung. Die Soldaten foppten einen Mischlingshund, dem die Rippen durch das schmutzig braune Fell stachen.
    Sie erkannte den Soldaten mit dem Fischmaul, der sich zwar vor ihrem Äußeren geekelt hatte, aber keine Scham empfunden hätte, ihr Geld zu nehmen. Die anderen riefen ihn Boris und feuerten ihn an, als er immer wieder einen Wurstzipfel lockend hochhielt, woraufhin der Hund sich mit eingezogenem Schwanz und ängstlichem Blick näherte. Wenn er dicht genug heran war, versetzte ihm Boris jedes Mal einen Tritt mit seiner Stiefelspitze, so dass das Tier sich jaulend trollte, nur um hinter dem nächsten Ginstergebüsch erneut nach dem Leckerbissen zu schielen und sich locken zu lassen.
    Als der Hund jaulte, nachdem er den dritten Tritt erhalten hatte, und die

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