Weiße Nächte, weites Land
betriebene Fabriken, in denen ein fleißiger Kolonist sofort Arbeit fand. In einer wurden seidene Strümpfe, in der anderen Hüte angefertigt, in der dritten stellte man Tücher und Schärpen her. Und es gab Kaufleute, von denen man lernen konnte, mit welcher Ware man die größten Gewinne erzielte.
Wie die meisten anderen Kolonisten kaufte sich Matthias zunächst eines der Kalmückenponys, die für zwölf Rubel angeboten wurden – ein hoher Preis, aber die Nachfrage nach den Lasttieren war immens. Viele schafften sich eine Kibitka – einen überdachten Reisewagen – an, der ihnen auf dem Weg durch die Steppe als komfortables Fortbewegungsmittel dienen sollte.
Ein guter Teil des Geldes ging für Proviant drauf. Brot und getrocknete Fische für die eigenen Bedürfnisse sowie Hafer für die Pferde wurden in gewaltigen Mengen gehortet und auf den Wagen verstaut. Die mit dem Ackerbau vertrauten Kolonisten schafften sich vorausschauend Sensen, Spaten und Pflüge an.
Eleonora und Anja versuchten mit vereinten Kräften, Christina zu überreden, bis zur Geburt des Kindes in Saratow zu bleiben.
»Du weißt nicht, wo wir landen und ob es dort in der Nähe Hilfe für dich geben wird. Hier kannst du eine Hebamme rufen«, beschwor Anja sie.
Doch Christina schüttelte den Kopf, dass die Locken flogen. »Ich gehe mit euch. Andere Frauen kriegen auch Kinder, und in unserer Gruppe sind genügend erfahrene Mütter, die mich unterstützen können. Außerdem habe ich dich, Anja.«
»Ich bin keine Hebamme. Ich bin noch nicht mal Apothekerin, geschweige denn Ärztin. Verlass dich nicht auf mich!«
Doch Christina erklärte, sie würde sich den Ablauf der Reise nicht von dem Kind diktieren lassen.
Wenigstens aber ließ sie sich überreden, sich von einer deutschstämmigen Hebamme, die sie in einem windschiefen Häuschen in der geschäftigen Innenstadt Saratows fanden, untersuchen zu lassen. Anja und Eleonora begleiteten sie, innerlich auf das Schlimmste gefasst. Wie mochte es in Russland mit der Geburtshilfe aussehen?
Doch sie wurden angenehm überrascht. Die Hebamme entpuppte sich als gepflegte Frau in mittleren Jahren, deren Untersuchungszimmer aufs penibelste sauber gehalten war. Ohne Umschweife ließ sie Christina sich auf einer mit einer weißen Leinendecke bezogenen Liege ausstrecken, um ihren Leib abzutasten.
»Es wird nicht mehr lange dauern. Der Kopf liegt schon tief im Becken«, stellte sie hinterher fest, während sie sich Hände und Arme in einem Eimer mit frischem Wasser wusch. »Alles deutet auf eine Geburt ohne Komplikationen hin. Das Kind strampelt munter und liegt bestens im Geburtskanal.«
»Was habe ich euch gesagt?«, rief Christina, als sie von der Liege kletterte.
»Wann, glaubt Ihr, wird das Kind kommen?«, erkundigte sich Eleonora bei der Hebamme, als sie sie aus ihrem Kopekensäckel entlohnte.
Die Frau hob die Schultern. »In nicht mehr als zwei Wochen, schätze ich.«
Je näher der Aufbruch zur letzten Etappe rückte, desto mehr Leben kam in die erschöpften Kolonisten. Endlich waren sie dem Ziel nahe, endlich würden sie ankommen.
Die Schritte wurden beschwingter, die Rufe freudiger, das Lachen der Frauen klang heller. Eleonoras Wangen hatten sich in der kühlen Oktoberluft gerötet. Mit Schwung beförderte sie Sophia auf den Wagen und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Bald haben wir es geschafft, Püppchen.«
Auch Marliese wirkte wie das blühende Leben, als sie Alfons half, auf der Kibitka Platz zu nehmen, und Helmine Kisten zum Verstauen hochreichte. Sie trällerte sogar ein lustiges Liedchen, woraufhin Helmine den Mund verzog und die Augen verdrehte.
Nur diejenigen, die den Großteil ihres Kapitals nicht für Anschaffungen und Proviant ausgegeben, sondern verprasst oder durch eigene Dummheit verloren hatten, schlurften mit verkniffenen Gesichtern herum.
Auch Veronica und Adam Mai fehlte der Antrieb. Veronica hatte in den letzten Wochen an Gewicht verloren, ihre zeltartige Kutte warf Falten. Sie hatte so viel geweint, dass es für ein ganzes Leben gereicht hätte. Aber um ihren Mund war ein energischer Zug gewachsen, der darauf hindeutete, dass sie ihr Schicksal trotz der schweren Heimsuchung zu meistern bereit war. Es würde weitergehen, und die Zeit würde die Wunde heilen, die der Tod ihres ersten Kindes in ihr Herz geschlagen hatte. Sie war jung, sie war gesund, sie würde wieder schwanger werden, sie würde sich nicht unterkriegen lassen. Ihre kleine Tochter hatte die Reise
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