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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Sahler
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fast bis zum Schluss trotz des grässlichen Hustens überstanden – sie war es ihr schuldig, dass sie diesen Weg nun zu Ende ging. Sonst wäre alles umsonst gewesen.
    Sie hatte den Leichnam nicht mehr gesehen, nachdem Adam ihn weggetragen hatte, aber sie erzählte den anderen Waidbachern, die ihr in diesen Stunden mehr Trost waren als ihr eigener Mann, dass er in einer Mondnacht ganz allein von der Tochter Abschied genommen und sie den Fluten der Wolga übergeben habe. Nur ihren Körper, sagte sie zu den anderen, nur ihren Körper. Ihr Geist war doch bei Gott, oder?
    Doch während Veronica allen gegenüber aufgeschlossen war und jeder sich darüber freute, dass sie den Lebensmut nicht verlor, wurde aus Adam Mai keiner schlau. Seit jener Szene auf dem Deck des Wolga-Schiffes war die Farbe nicht mehr in sein Gesicht zurückgekehrt. Seine Haut blieb aschegrau, sein Blick totenstarr. Er sprach kaum ein Wort, öffnete den Mund nur für die wenigen Bissen, die er zu sich nahm.
    Voll Anteilnahme beobachteten die Waidbacher, wie Veronica ein ums andere Mal einen Versuch unternahm, sich gegenseitig zu trösten. Sie wollte Adam in die Arme nehmen, sich bei ihm unterhaken, seine Hände halten … Doch vergeblich. Adam wandte sich nicht nur von der ganzen Welt ab, sondern selbst von der Frau, mit der er im Leid vereint hätte sein sollen. Seine Trauer schien fest in ihm verschlossen. An einem Abend äußerte Anja die Sorge, sie könnte ihn innerlich zerfressen. »Wir sollten ihn im Auge behalten. Sobald wir am Ziel sind, muss er eine Aufgabe bekommen, die ihn ganz in Anspruch nimmt.«

    Das letzte Stück des Weges sollte gut neunzig Werst lang sein. Den meisten Kolonisten erschien das nach der Strecke, die sie bereits zurückgelegt hatten, wie ein sonntäglicher Bummel nach dem Kirchgang.
    In der Morgendämmerung verließen die etwa acht Dutzend Kolonisten, zu denen die Waidbacher gehörten, Saratow in südlicher Richtung. Das muntere Gelächter und fröhliche Pfeifen ließ nach, je weiter sie vorankamen, immer ihren russischen Anführern hinterher.
    Zu beiden Seiten des Pfades breitete sich, während sie sich vom Fluss entfernten, Steppenland aus. Kein einziges Dorf lag am Wegesrand, doch als sie durch die erste deutsche Kolonie rumpelten, die hier entstanden war, legte sich bedrücktes Schweigen über den Treck.
    Christina presste sich die Hand vor den Mund, während sie sich umschaute, als müsste sie das Fluchen gewaltsam unterdrücken.
    Eleonora schluckte. Wie armselig das hier aussah! Die Hütten verfallen, die Dächer löchrig, die Menschen trugen Lumpen und starrten mit wehmütigen Gesichtern auf ihre Landsleute, die voll frohen Mutes bis hierher gekommen waren. Was sich in ihren traurigen Mienen spiegelte, gab nicht den geringsten Anlass zu Hoffnung. Fast alle trugen Bastschuhe, die meisten russische Tracht, doch hier und da lugten noch eine veraltete Bluse oder eine geflickte Hose hervor.
    Eleonora drückte Sophia an sich, die still neben ihr saß und sich umschaute.
    »He, lasst uns anhalten und mit den Menschen reden!«, rief Daniel auf Russisch zu den Anführern. Er war derjenige, der die Sprache am schnellsten lernte und schon einige wichtige Sätze beherrschte.
    Aber die Soldaten weigerten sich – »Njet! Idi dal’sche!«  – und wiesen nach vorn.
    Sie haben Angst, dass unsere Landsleute uns die Wahrheit über dieses Land erzählen, ging es Eleonora bitter durch den Sinn. Die plötzliche Erkenntnis, dass sie mit völlig falschen Erwartungen hierher gereist waren, legte sich wie eine schwarze Decke auf ihr Gemüt, ließ ihren Mund austrocknen und ihre Augen brennen.
    Schließlich hörte die Straße auf, und die Fahrt ging mitten hinein in die Steppe. Keine Spur mehr von einem festen Weg, einem Trampelpfad oder Ähnlichem – nur urwüchsige, trockene Wildnis.
    »Wir müssen falsch abgebogen sein!«, rief Daniel. »Hier ist kein Weg mehr!«
    Die Anführer lachten nur und erwiderten, sie seien ganz genau richtig, worauf Eleonoras Mut noch mehr sank. Die Vorstellung, dass sie in der Wildnis am Ende der Welt landen würden, verdichtete sich zur Gewissheit.
    Sie befanden sich inzwischen auf dem Land westlich der Wolga, das die Bergseite genannt wurde, wie Daniel ihnen die spärlichen Auskünfte der Soldaten übersetzte. Steil fielen die Hügel zum Strom hin ab, bis zum Horizont erstreckte sich die grasbewachsene Ebene des Hochplateaus. Nur vereinzelt passierten sie Waldstücke, dunkelbraune Flecken inmitten der

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