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Weiße Nebel der Begierde

Titel: Weiße Nebel der Begierde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaclyn Reding
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Versuchen, eine fliegende Möwe und eine zarte Blume an die Wand zu zaubern, wurde Juliana beherzter und kreierte eine Szenerie, die Eleanor später als Landschaft von Trelay erkannte - die mit Heide bewachsenen Hügel, die raue See und Dunevin Castle mit dem Turm, der alles bewachte. Das Kind verbrachte
    Stunden mit dem Gemälde und zeigte zum ersten Mal echtes Interesse an etwas anderem als an dem Ausblick aus dem Fenster. Während sie skizzierte und malte, las Eleanor ihr Shakespeare oder Vergil vor. Manchmal machte sie sich auch daran, die Aussprache der gälischen Worte zu üben, die Mairi ihr beigebracht hatte.
    Seit dem Tag im Arbeitszimmer hatte Eleanor den Viscount nur ein paar wenige Male zu Gesicht bekommen. Sie und Juliana nahmen die Mahlzeiten nicht mehr mit ihm im Speisezimmer ein, sondern hielten sich sehr oft bei Mairi in der Küche auf. Falls Mairi sich darüber wunderte, verlor sie kein Wort darüber. Ihr genügte Eleanors Erklärung, dass zu Julianas Ausbildung auch die Haushaltsführung gehörte und dass sie deshalb als Erstes lernen sollte, was sich in einer Küche, dem eigentlichen Herzen eines Hauses, abspielte.
    Wenn Eleanor den Viscount sah, dann nur im Vorbeigehen, und sie grüßte jedes Mal mit einem freundlichen »Guten Tag, Mylord«. Juliana und sie hatten ihren eigenen Tagesablauf, und Dunevin schien froh zu sein, sie nicht um sich zu haben. Wenn Eleanor etwas aus seiner Bibliothek brauchte, wartete sie, bis sie sicher sein konnte, dass er sich nicht im Schloss aufhielt, bevor sie sein Arbeitszimmer betrat. Das bereitete ihr derzeit keine Schwierigkeiten, da die Ernte und die Vorbereitungen für den nahenden Winter in vollem Gange waren, und Dunevin während des Tages kaum im Haus war. Die Zeit verging rasch, und tagsüber gelang es Eleanor - aber nachts, wenn sie neben der schlafenden Juliana im Dunkeln lag, dachte sie immer wieder an den bewussten Vormittag, seine wunderbar melodische Stimme und den Kuss, der ihr den Atem geraubt hatte.
    Jetzt wusste sie, dass ihre Mutter Recht gehabt hatte. Der erste Kuss war wie ein Wunder, verwirrend, berauschend. Für einen Augenblick hatte sie wirklich vergessen, Luft zu holen. Dieses Erlebnis war ganz anders als die unbeholfenen Tratschereien von Lord Monnings Sohn James Cockett, als er sie auf ihrem ersten Ball in London gegen die Balustrade des Balkons gedrängt hatte. Und auch die gehauchten Küsse auf die behandschuhte Hand - die einzige Zärtlichkeit, die sich Richard Hartley erlaubt hatte, waren nicht damit zu vergleichen.
    Was auch immer sie dazu verleitet hatte, Lord Dunevin so zu küssen, es war ein magischer, weltentrückter Moment gewesen - sie hätte so etwas niemals für möglich gehalten. Obwohl sie ihre Empfindungen nicht beschreiben konnte, erfüllten sie sie mit Wärme, Zärtlichkeit und Hoffnung. Ihre Zweisamkeit und die Vertrautheit hatten sich so richtig angefühlt, so wirklich, so ... so, wie es sein sollte. Für einen Moment schien die Welt stillzustehen und zwischen den Sternen zu verharren, um den Zauber ein klein wenig länger gewähren zu lassen.
    Doch plötzlich war der Kuss Vergangenheit, die Erde trudelte wieder an ihren Platz, und Eleanor war entsetzt über das, was sie getan hatte. Die Scham quälte sie jede Nacht.
    Sie fragte sich, ob diese Leere in ihrem Inneren und das Gefühl, etwas verloren zu haben, was sie in Wahrheit nie besessen hatte, jemals vergehen würde.
    Würde die Erinnerung an die Berührung, an den salzigen Geruch seines Haars, an die Wärme seines Atems irgendwann verblassen?
    Sie beschloss, sich viel vorzunehmen und sich ständig zu beschäftigen, bis sie ruhiger wurde. Gott sei Dank stand das Fest bevor und brachte viel Arbeit mit sich.
    Am Sonntag vor Michaelis gesellten sich Eleanor und Juliana zu den anderen Frauen und Mädchen der Insel, die sich bereits im Schlosshof versammelt hatten. Jede hatte eine dreizinkige Hacke bei sich, alle trugen bunte Röcke und Mieder und hatten leuchtende Kopftücher auf. Sie machten sich zusammen auf den Weg zu den Feldern in der Nähe des Schlosses.
    Dort verteilten sie sich, hackten die Erde vorsichtig auf und klaubten die Karotten auf, um sie in die Taschen zu stecken, die sie sich um die Taillen gehängt hatten. Die Frauen sangen bei der Arbeit, waren fröhlich, und eine gewisse Rivalität, wer die meisten und schönsten Karotten sammelte, spornte sie an.
    Als Eleanor eine gegabelte Karotte aus der Erde holte, war sie sofort umringt von den Frauen; alle

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