Weiße Stille
Einfallsreichtum seiner Bürger den Ort davor bewahrt, zur Geisterstadt zu werden. Alte Fotos zeigten, dass sich in der Main Street früher die Tanzlokale und Saloons befunden hatten, während die Ridge Street die Geschäftsstraße gewesen war. Heute reihten sich hier Restaurants und Büros, Pensionen und Wohnhäuser aneinander.
Vor einem Modell des Quandary Peak blieb Ren stehen. Der Quandary war der höchste Berg der Tenmile Range. Jean Transoms Leichnam war abseits des so genannten East Ridge Trail gefunden worden, einer erst vor knapp zehn Jahren angelegten Route.
Ren zog ihre Kamera aus der Jackentasche und machte Fotosvom Modell des Berges. Dann schaute sie auf die Uhr. Es wurde Zeit, zum Büro des Sheriffs zu fahren, um über den neuesten Stand der Ermittlungen zu berichten.
Ren ging den Flur zu ihrem Büro hinunter, als sie Mike sagen hörte: »Was diese Frau erzählt, hat weder Hand noch Fuß.«
Seine Stimme erklang aus Bobs Büro. Ren klopfte an die geöffnete Tür und trat ein.
»Haben Sie über mich gesprochen?«, fragte sie.
Mike drehte sich zu ihr um und lächelte. »Wie käme ich dazu?«, sagte er und zeigte auf das Fernsehgerät in der Ecke. »Stell das bitte lauter, Bob.«
Bob nahm die Fernbedienung in die Hand, worauf die Stimme der Reporterin Casey Bonaventure erklang: »… das Verschwinden des achtundzwanzigjährigen Mark Allen Wilson im Februar letzten Jahres. Der Leichnam wurde bis heute nicht gefunden. Wilson wurde zuletzt im Brockton Filly gesehen, einer Gaststätte fünf Meilen außerhalb von Breckenridge am Fuße des Quandary Peak, ein Berg, der im vergangenen Jahr einen düsteren Schatten auf das Leben zweier Familien geworfen hat …«
Bob schüttelte den Kopf. »Meine Güte, Casey ist vielleicht eine Marke. Ich habe ihr gesagt, sie soll die Finger von der Story lassen und erst mal richtig recherchieren. Und was tut sie? Sie setzt uns wieder diesen Schwachsinn vor.« Er stellte den Ton leiser.
»He, was soll das?«, sagte Ren. »Das könnte interessant für uns sein.«
»Nein, ganz bestimmt nicht«, versicherte Bob ihr. »Die Sache ist ganz einfach: Mark Allen Wilson, ein Mann von außerhalb, wird seit dem letzten Februar vermisst. Er hatte den ganzen Abend im Filly gesoffen, war sternhagelvoll, prügelte sich, ging raus in den Schnee, pinkelte irgendwo an einen Baum, fiel hin, stieß sich dabei den Kopf an, wurde bewusstlos und erfor. Sein Leichnam wurde bis heute nicht gefunden.«
»Es gibt keine Spur von diesem Wilson?«
»Nein. Der Letzte, mit dem er in der Kneipe herumhing, war ein Bursche namens Terrence Haggart. Es kam zum Streit, und Haggart hat Wilson ordentlich was aufs Maul gehauen. Wilson verließ die Kneipe, verschwand spurlos und wurde als vermisst gemeldet. Bis heute gibt es keine Spur von ihm. So war das.«
»Hat Wilsons Familie Ihnen arg zugesetzt?«
»Der Mann war Alkoholiker, und die Familie hatte keine Zeit für ihn.«
»Das ist traurig«, sagte Ren. »Eine Krankheit, die für alle einen viel zu hohen Freizeitwert hat, um irgendetwas zu unternehmen, bis es zu spät ist.«
»Ja«, sagte Mike.
»Wo steckt Tiny Gressett?«, fragte Ren.
»Als ich ihn zum letzten Mal gesehen habe«, sagte Mike, »war er in der Küche am Ende des Gangs.«
»Danke. Bis später.«
Gressett kam gerade mit einem Kaffee aus der Küche.
»Tiny?«, sagte Ren.
Er blieb stehen, drehte sich aber nicht um. »Ja?«
Ren ging um ihn herum und schaute ihn an. »Ich weiß, dass Sie wahrscheinlich keine engere Beziehung zu Jean hatten, aber dürfte ich Ihnen dennoch ein paar Fragen über ihr Privatleben stellen?«
Gressett nickte. »Wenn es Ihnen etwas bringt.«
»Hat sie Ihnen gegenüber mal über Freunde oder Verabredungen gesprochen?«
»Nein, ich kann mich nicht erinnern.«
»Hat jemand sie mal von der Arbeit abgeholt oder sich mit ihr in der Mittagspause getroffen?«
Gressett runzelte die Stirn. »Nicht, dass ich wüsste.«
»Sie hat sich nie mit jemandem zum Mittagessen getroffen?«
»Nein. Sie hat oft im Büro gegessen … oder wir sind zusammen was essen gegangen.«
Das muss ein tolles Vergnügen gewesen sein, dachte Ren.
»Tut mir leid, mehr kann ich dazu nicht sagen«, sagte Gressett. »Das heißt … ich habe Jean ein paarmal im Sacred Grounds gesehen. Das ist ein Café in Glenwood.«
»War sie allein?«
Er nickte. »Ja. Immer.«
»Schien Sie Interesse daran zu haben, jemanden kennen zu lernen?«
»Jemanden kennen zu lernen? Ich weiß nicht … Jean lebte sehr
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