Weiße Stille
üblichen Formulierungen und Zeugenaussagen, die keine neuen Erkenntnisse brachten. Immer wenn Billy Waites’ Name auftauchte, stieg in Ren ein Gefühl auf, das sie nicht einordnen konnte.
Den nächsten Abschnitt las sie wieder gründlich durch, denn sie wollte ein Gespür dafür bekommen, was für ein Mensch Mark Wilson gewesen war.
Sozialer Hintergrund:
Am 14. Februar telefonierte ich mit Mark Wilsons Mutter, Diane Wilson. Sie bestätigte, dass sie nichts von ihrem Sohn gehört habe, sagte aber aus, dass sie ohnehin nie etwas von ihm höre. Er war in Iowa aufgewachsen und hatte ab Ende zwanzig Drogen-und Alkoholprobleme. Mehrere Versuche seiner Familie, ihn zu einem Entzug zu drängen, scheiterten. Schon als Dreiundzwanzigjähriger hatte er sich von seiner Familie entfremdet und nach Aussage seiner Mutter nur noch gelegentlich den Kontakt gesucht, »Wenn er Geld brauchte oder um Mitleid heischen wollte«.
Nachdem Wilson sein Elterhaus verlassen hatte, nahm er verschiedene Jobs an, meistens in Fabriken und auf Farmen. Einen Monat vor seinem Verschwinden war er nach Breckenridge gezogen …
Ren lehnte sich zurück. Es war erschreckend, zu welchen Aussagen die Leute sich in solchen Befragungen hinreißen ließen und welche schrecklichen Worte sie wählten. Mark Wilson, einetragische Figur, ein Trinker, hatte es nicht verdient, dass seine Familie sein Verschwinden als »eine von vielen Mitleid erregenden Nummern« bezeichnete, wie in der Akte zu lesen war.
33.
Obwohl die Scheibenwischer eingeschaltet waren, wurde die Sicht kaum besser. Ren war ungeduldig und hatte es eilig, ihr Ziel zu erreichen. Adrenalin und eine Dose Red Bull putschten sie auf. Die Main Street sah aus wie die einer Geisterstadt, die Breckenridge niemals geworden war. Nur einen kurzen Moment erhellten die Lichter die Fahrbahn, ehe die dunklen, unbeleuchteten Straßen begannen. Auf dem Weg zum Filly überholte Ren ein paar Fahrzeuge. Schließlich parkte sie hinter dem grünen, schmutzigen Pick-up, den sie hier zu finden gehofft hatte – den Wagen des Muskelmannes.
Ren schaute durchs Fenster ins Innere des Pick-ups, in dem ein schreckliches Durcheinander herrschte. Sie sah einen Haufen leere Flaschen, alte Zeitungen, Chipstüten, Plastiktassen, Lappen, eine Schachtel Koffeintabletten, eine Tube Haargel.
Ren betrat die Kneipe und ließ den Blick schweifen, konnte den Mann aber nirgends entdecken. Doch plötzlich kam Jo aus der Herrentoilette, gefolgt von dem Muskelmann.
»Mach mir noch ein Bier, Billy«, rief Jo quer durch die Kneipe, ehe sie Ren entdeckte. »Hallo«, rief sie und winkte. »Wie geht’s?«
»Danke der Nachfrage«, sagte Ren. »Und selbst?«
»Super.«
Ren stellte sich an die Theke. Billy saß dahinter und las in einem Buch.
»Sie schuften sich noch zu Tode«, sagte Ren lächelnd.
Billy erwiderte das Lächeln und legte das Buch aus der Hand.»Ich musste mich um Fässer kümmern, die heute angeliefert wurden. Außerdem sitze ich genau seit fünf Minuten hier. Vorher habe ich den ganzen Abend noch keine Pause gemacht.«
»Sie Ärmster.«
»Mir gefällt mein Job.«
»Tatsächlich?«
»Ja. Und wie ist es bei Ihnen?«
»Als ich jünger war, habe ich verschiedene andere Dinge gemacht, die mir nicht so richtig gefallen haben. Aber jetzt weiß ich, dass ich mir den besten Job ausgesucht habe.«
»Obwohl Sie kein Privatleben haben?«
»Oh, ich habe durchaus ein Privatleben«, widersprach Ren. »Ich frage mich nur, wo es ist.«
Billy lächelte. »Tut mir leid. Das war nicht sehr nett.«
»Stimmt. Was lesen Sie da?«
»Der Mann, der sich in den Mond verliebte.«
»Das gehört zu meinen Lieblingsbüchern.«
Billy nickte. »Zu meinen auch. Eine seltsame Geschichte. Und schön geschrieben.«
»Zeigen Sie mal.«
Billy runzelte die Stirn und legte das Buch auf die Theke. Ren beugte sich hinunter, um es sich anzusehen, und flüsterte ihm zu: »Würden Sie bitte die Bierflasche von unserem Freund sicherstellen, damit ich die Fingerabdrücke nehmen kann?«
»Jetzt?«
»Natürlich nicht jetzt sofort.« Ren lächelte. »Aber heute noch.«
»Klar.«
Nachdem der Muskelmann sein Bier ausgetrunken hatte, verließ er die Kneipe. Billy wartete eine Weile, ehe er zu dem Tisch ging, an dem der Mann gesessen hatte. Er wickelte eine Serviette um den Flaschenhals und nahm die Flasche mit in ein Zimmer hinter der Theke. Dort blieb er eine Weile. Ren blätterte in dem Buch. Als sie sich umdrehte, stellte sie fest, dass niemand mehr in
Weitere Kostenlose Bücher