Weiße Stille
trockener Erde, und jemand presste ihr einen Stiefelabsatz auf die Kehle. Sie sah Gesichter vor sich, die von Feuchtigkeit aufgedunsen waren. Funkelnde Augen durchbohrten sie mit Blicken, während die Gesichter sich in hässliche Fratzen verwandelten. Ren spürte Dreck auf den Lippen und wollte ihn wegwischen, konnte sich aber nicht bewegen. Speichel lief ihr aus dem Mund, die Haut auf ihrem Gesicht brannte und war von der Hitze gespannt, und ihr Herz klopfte rasend schnell …
Ren schreckte aus dem Schlaf und atmete langsam ein und aus. Durch das Fenster sah sie das heftige Schneetreiben draußen. Sie zwang sich aufzustehen. Sämtliche Knochen taten ihr weg. Sie schaute auf die Uhr – halb zwölf.
Benommen fragte sie sich, ob jemand hereingekommen war und sie gesehen hatte.
Sie fragte sich, ob sie im Traum geschrien hatte.
Und sie fragte sich, ob sie jemals wieder etwas Schönes träumen würde.
32.
Als Ren am nächsten Tag ins Büro kam, bat sie Bob, ihr die Akte von Mark Allen Wilson zu geben. Sie sagte ihm nichts davon, dass sie eine Verbindung zwischen dem Fall Wilson und dem Verschwinden Jean Transoms für möglich hielt – Bob würde sie für verrückt erklären.
»Geben Sie Oliver Haggarts Wunsch nach?«, fragte Bob.
»Schon möglich«, gab Ren zu. »Ich möchte auf jeden Fall mal einen Blick in die Akte werfen. Kann ja nichts schaden.«
»Also, ich weiß nicht …«
»Hören Sie Bob, ich kann verstehen, dass Sie Haggarts Bitte nicht so toll finden, aber Sie wissen bestimmt, wie das ist, wenn einem ständig ein Gedanke durch den Kopf geht. Man möchte diesen Gedanken endlich loswerden, sich davon befreien …« Sie zuckte mit den Schultern. »Die ganze Sache kostet mich eine halbe Stunde.«
»Verschwenden Sie nicht Ihre Zeit?«
»Eine halbe Stunde kann ich erübrigen. Die ziehe ich notfalls von der Mittagspause ab.«
»Ich habe noch nie gesehen, dass Sie etwas gegessen haben, seitdem Sie bei uns sind.«
»Ich habe mir einen sauren Drops aus Ihrer Schale genommen.«
»Na, toll. Okay, reden Sie mit Mike. Er gibt Ihnen die Akte.«
Ren fuhr zur Main Street und parkte den Wagen ein paar Häuser vom Crown entfernt, einem ihrer Lieblingslokale in Breckenridge –ein Café im ersten Stock eines roten Backsteinhauses in einer Einkaufszeile. Der Eingang aus den Achtzigern führte in eine vollkommen andere Welt: Fresken, Kronleuchter, antike Wandlampen und dick gepolsterte, bequeme Stühle.
Der Platz am Kamin war frei. Ren ging zur Theke und bestellte sich eine Zimtrolle, dazu einen schwarzen Kaffee. Sie bat die Kellnerin, noch zwei Espresso hineinzuschütten. Dann ging sie zu dem Stuhl am Kamin und schlug die Akte über den vermissten Mark Wilson auf.
Aufnahme des Falls:
Am 12. Februar erhielt Hilfssheriff Mike Delaney um sechzehn Uhr einen Anruf von Hal Rautts aus dem Reign on Main. Rautts berichtete, Mark Wilson sei nicht zu einem Vorstellungsgespräch erschienen, das sie in der Woche zuvor vereinbart hatten. Er konnte Mark Wilson auf seinem Handy nicht erreichen. Auf die Nachricht hin, Wilson habe am Samstag zuvor eine gewalttätige Auseinandersetzung mit Terrence Haggart gehabt und sei zuletzt übel zugerichtet gesehen worden, hatte Hal Rautts zuerst im Cheapshot Inn angerufen, wo Wilson gewohnt hatte. Doch seit dem Tag vor der Schlägerei mit Haggart war er dort nicht mehr gesehen worden. Daraufhin rief Rautts im Büro des Sheriffs an und meldete Mark Wilson als vermisst.
Ermittlungen:
Ich habe Terrence Haggart verhört. Er gab zu, dass es am Samstag, den 10. Februar, gegen dreiundzwanzig Uhr im Brockton Filly zu einer Auseinandersetzung gekommen sei. Bei dem Streit war es um Geld gegangen. Haggart sagte aus, Wilson habe ihm zweitausend Dollar geschuldet. Er habe Wilson zum letzten Mal auf dem Parkplatz vor dem Brockton Filly gesehen. Haggart gab zu, Wilson zusammengeschlagen zu haben, doch als er in die Kneipe zurückkehrte, habe Wilson noch stehen können. Diese Aussage wurde von Billy Waites bestätigt, dem Wirt des Brockton Filly.Dieser bestätigte auch, dass Mark Wilson an jenem Tag bereits ab sechzehn Uhr nachmittags getrunken habe.
Terrence Haggart verließ das Brockton Filly um ein Uhr nachts, um nach Hause zu fahren. Mark Wilson hatte die Kneipe nach der Prügelei auf dem Parkplatz nicht wieder betreten. Wilson war am Nachmittag per Anhalter dorthin gefahren. Er hatte also keinen eigenen Wagen, um nach Breckenridge zurückzukehren.
Ren überflog den Rest der Akte – die
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