Weiße Stille
andermal«, sagte sie.
»Oooch«, machte Gary. »Kommen Sie doch mit.«
»Tut mir leid. Ich kann nicht.«
Ren verließ das Büro, eilte die Treppe hinunter und lief zu ihrem Jeep. Sie nahm ihren iPod aus dem Handschuhfach und schloss ihn an den Zigarettenanzünder an. Dann ließ sie den Motor an und fuhr vom Parkplatz in Richtung Interstate 70. Sie fuhr an ihrem Lieblingsschild vorbei, das davor warnte, keine Anhalter mitzunehmen, da ganz in der Nähe ein Gefängnis war. Normalerweise lächelte Ren darüber. Das nächste ihr vertraute Schild war die Ausfahrt nach Golden. Sie hörte auf ihre innere Stimme und fuhr ab.
Als Ren in die Einfahrt einbog, spürte sie kaum noch die Vertrautheit des Ortes. Sie betrat das Haus und warf die Schlüssel auf den Tisch. Ihr Zuhause hatte keine Seele mehr. Sie wohnte nicht hier, und Vincent auch nicht. Doch als Ren sich umschaute, blickte ihr das gemeinsame Leben mit Vince aus allen Ecken entgegen. Dennoch wusste sie, dass es niemals mehr wie früher sein würde. Egal was geschah.
Sie wartete auf die Tränen, doch sie kamen nicht. Sie wartete auf ein Gefühl der Gleichgültigkeit, doch auch das stellte sich nicht ein. Stattdessen folgte sie einem unsentimentalen Pfad durch das Haus, das sie und der Mann, den sie geliebt hatte, geteilt hatten. Vor drei Monaten war alles zusammengebrochen, doch schon Monate zuvor hatte das Fundament Risse bekommen. Und nach den ersten Rissen hatte niemand mehr den endgültigen Einsturz verhindern können.
Ren öffnete einen Brief von ihrer Bank.
Hiermit teilen wir Ihnen mit, dass folgende Schecks vorgelegt wurden, ohne dass Ihr Konto die entsprechende Deckungssumme aufwies …
Blabla. Sie musste sich ins Internet einloggen und per Online-Banking Geld von einem anderen Konto überweisen. Und dann musste sie sich Gedanken darüber machen, wie sie das Minus ausgleichen sollte.
Als sie ein Geräusch hörte, schnürte sich ihr die Kehle zu. Es klang, als würde irgendetwas über Holz kratzen. Das Geräuschkam aus dem Schrank in der Diele. Ren ging dorthin und blieb unschlüssig davor stehen. Einmal hatten sie eine Maus im Haus gehabt. Vincent hatte das Problem damals beseitigt.
Doch Vince war nicht mehr da.
Ren überlegte, ob sie ihre Waffe ziehen sollte. Dann riss sie kurz entschlossen die Schranktür auf. Ein Ski kippte ihr entgegen. Sie wich nach rechts aus und duckte sich. Der Ski landete scheppernd auf dem verblichenen Holzboden.
Verdammt!
Ren stand vor dem Schrank. Sie sah den zweiten Ski, ein paar Rollerblades, zwei Squashschläger, Boxhandschuhe, Schwimmflossen, einen Basketball, einen ungeöffneten Karton mit einem Dampfkochtopf, drei neue Rollen Weihnachtspapier, ein Paket Glückwunschkarten, einen Reithelm. Das alles gehörte ihr. Vincent besaß Farbe, Werkzeug und Holz. Und Ren zog eine Spur unerledigter Dinge hinter sich her.
47.
Als Ren zum Gasthof zurückkehrte, wurde es dunkel. Sie trat durch den Haupteingang ein. Eine Frau, die sich ein Handtuch um den Körper geschlungen hatte, kam ihr auf dem Flur entgegen. Ein Mann, vermutlich der Gatte der Frau, blieb zurück und hielt Ren die Tür zum Whirlpool auf. Sie bedankte sich und ging hindurch. Ein junger Student saß im Whirlpool und sang eine Arie.
»Ganz toll«, sagte Ren.
»War das ernst oder ironisch gemeint?«, fragte der junge Mann.
»Wie kann jemand so unmusikalisch sein?«, erwiderte Ren lächelnd, als sie die Holztreppe hinaufstieg.
»Ist das Ihr Zimmer da oben?«
Ren nickte. »Ja.«
»Nur für Sie allein?«
Ren blieb stehen.
»Oh, ich … so habe ich es nicht gemeint«, sagte der junge Bursche. »Ich dachte nur, Sie müssen ziemlich gut betucht sein, wenn Sie eine Suite gemietet haben.«
Ren lachte. »Nein. Ganz sicher nicht.«
»Jetzt meinen Sie bestimmt, ich bin ein Spinner.«
»Nein, meine ich nicht. Schönen Abend noch.«
»Den werde ich haben. Ich möchte mich noch mal entschuldigen. Und keine Sorge, ich komme bestimmt nicht zu Ihnen rauf und stelle Ihnen nach.«
Ren beugte sich übers Geländer. »Sie können es ja malversuchen. Ich an Ihrer Stelle wäre allerdings vorsichtig.« Sie zwinkerte ihm zu.
Als Ren die Suite betrat, erlosch ihr Lächeln schlagartig. Sie ging durchs Zimmer, schloss die Fensterläden, schaltete die Lampen ein und zündete die Kerzen an. Dann amtete sie tief durch und rief Paul Louderback an.
»Paul? Ich bin’s, Ren. Kannst du reden?«
»Ja. Schieß los.«
»Warum werde ich vorübergehend nach Glenwood
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