Weiße Stille
versuchen, die Akte mit irgendeinem Fall in Verbindung zu bringen. Was ist mit dieser Ruth?«
»Sie hat Selbstmord begangen. Im Juni letzten Jahres. Man kann auf dem Foto erkennen, in welch schrecklicher Verfassung die Frau gewesen ist. Sie war seit Jahren Alkoholikerin.«
»Hier ist überall viel zu viel Alkohol im Spiel«, sagte Ren. »Können Sie mir noch etwas über diese Ruth Sleight erzählen?«
»Ich glaube, ich kenne den Grund für ihre Alkoholsucht. Erinnern Sie sich an den Mayer-Sleight-Fall Ende der Siebzigerjahre?«
»Verschwommen.«
Die Mayer-Sleight-Entführung war 1979 die Top-Nachricht auf allen Sendern gewesen und hatte Schlagzeilen in sämtlichenZeitungen gemacht. Zwei elfjährige Mädchen aus Frisco, Jennifer Mayer und Ruth Sleight, verschwanden auf dem Heimweg vom Tanzunterricht. Es war das erste Mal, dass ihre Mütter ihnen erlaubt hatten, alleine nach Hause zu gehen. Beide Familien weigerten sich, mit den Journalisten zu sprechen.
Drei Wochen später tauchten die Mädchen wieder auf. Die Familien gaben daraufhin eine Erklärung ab:
Wir möchten allen danken, die uns in dieser schrecklichen Zeit geholfen haben, unsere Hoffnung nicht aufzugeben. Unsere Mädchen sind unversehrt zu uns zurückgekehrt, und wir danken Gott für dieses Geschenk.
Niemand sprach von einer Entführung. Niemand sprach von »Ausreißerinnen«. Die Polizei hörte bei ihren Ermittlungen nur von »Freude« und »Erleichterung«. Schließlich geriet die Sache in Vergessenheit.
»Ja«, sagte Lasco. »Das große Interesse der Medien damals, die Gerüchte, die Fragen … das alles muss zu viel für Ruth gewesen sein. Oder in den drei Wochen, die die Mädchen damals verschwunden waren, ist doch irgendetwas passiert.«
Ren nickte. »Wir können alle nur raten, was das gewesen sein könnte.«
»Ich bringe Ihnen das Foto vorbei.«
Ren nahm sich die Ruth-Akte noch einmal vor, die über eine Zeitspanne von dreißig Jahren sämtliche Fälle sexueller Belästigung von Kindern umfasste, die in den Countys Summit und Garfield verübt worden waren. Ren las den letzten verzeichneten Fall in der Akte: Die Mutter des betroffenen Mädchens hatte in ihrer Panik das FBI-Büro in Glenwood angerufen. Während sie sich um ihren kleinen Sohn gekümmert hatte, hatte die Frau ausgesagt, habe ihre siebenjährige Tochter ihren nassen Badeanzug ausgezogen, als ein dickbäuchiger Mann sich vor ihr entblößt und Fotos von ihr gemacht hatte. Sein Haar sei weder dunkel noch hell gewesen, und er habe eine marineblaue Jogginghose, ein weißes T-Shirt undSneakers getragen. Das Mädchen beschrieb ihn als »alt«, aber für ein siebenjähriges Kind sind alle Leute alt. Und »er hatte keine Haare«.
Kahlköpfig, dick und alt.
Ren überflog die Akte und suchte nach ähnlichen Beschreibungen von einem der anderen Mädchen. Der Seite über Ruth Sleight war keine Nummer zugeteilt worden. Unter der Überschrift WO ? stand: Kreise … verblasst … Staub … seltsamer Geruch … Bäckerei? Unter der Überschrift WER ? stand: Moschus … knöcherne Hüften. Unter WARUM ? hatte sie nur geschrieben: Warum? Warum? Warum?
Warum hatte Jean nach dem Warum gefragt?
Warum was?
Ren schaute auf die Zeichnung des Kindes, die an die Seite angeheftet war – eine Aneinanderreihung geometrischer Figuren. Darunter stand in der Schrift eines Erwachsenen: Gruß und Kuss, Ruth.
Ren schaute auf die Rückseite der ersten Seite. Quer darüber stand eine Telefonnummer. Ren runzelte die Stirn. Sie kannte die Nummer. Sie gehörte zu Paul Louderbacks Wegwerfhandy. Louderback – ihr Ausbilder in Quantico und Ex-Lover. Der Mann, der behauptet hatte, Jean Transom nicht persönlich gekannt zu haben.
»Ren?«
Ren zuckte zusammen, hob den Blick und sah Denis Lasco, der soeben ihr Büro betrat. Er reichte ihr das versprochene Foto von Ruth Sleight. Es steckte in einer Beweistüte.
Ren bedankte sich und zog das Bild hervor. Ruth Sleigh sah schrecklich aus: gerötetes, gedunsenes Gesicht, geschwollene Augen, leerer Blick, schlaffe, graue Haut. Ihr Haar war am Ansatz braun, strähnig und fettig, an den Spitzen rot, ausgetrocknet und dauergewellt. Sie hatte starkes Übergewicht und trug ein ärmelloses gelbes T-Shirt und weiße Shorts. Zwischen den Fingern hielt sie eine brennende Zigarette.
»Du meine Güte«, murmelte Ren. »Die arme Frau.«
»Kann man wohl sagen.« Lasco nickte.
»Okay, vielen Dank für das Foto. Damit wäre ein Rätsel für mich gelöst. Würde ich jetzt auch
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