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Weiße Stille

Weiße Stille

Titel: Weiße Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Barclay
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entwurzelten Baum. Die rechte, von dem zersplitterten Baumstamm abgewandte Seite, war gesprenkelt, gedunsen und voller Blasen. Ihre Hände und Finger waren gekrümmt und vertrocknet. Vögel hatten ein Augenlid abgerissen und einen Augapfel herausgepickt. Das Mumiengesicht mit den gefletschten Zähnen bot einen grotesken, schauderhaften Anblick.
    Ren schaute zum Himmel und versuchte, die Tränen zurückzuhalten. Sie sprach ein stummes Gebet; dann blickte sie auf den Leichnam hinunter, der zu ihren Füßen lag.
    Ich werde alles tun, deinen Mörder zu finden, Jean Transom.

52.
    Dr. Tolman nahm mit seinem Assistenten die Obduktion von Jeans Leiche vor. Denis Lasco, Ren Bryce, Paul Louderback, Bob Gage und Todd Austerval schauten zu. Alle trugen Schutzanzüge, Mundschutz und Überschuhe.
    Ren hatte seit fünfzehn Stunden nichts gegessen, und ihr drehte sich der Kopf. Das Einzige, was sie davon abhielt, sich auf ihren leeren Magen zu konzentrieren, war Jean Transom, ihr schlichtes Leben, ihre CD-Sammlung seichter Unterhaltungsmusik, ihre pastellfarbenen Nachthemden, ihre Teddybären.
    »Sie hat ein großes Tattoo«, sagte Tolman.
    »Was?«, fragte Ren.
    »Sehen Sie hier.« Sie hatten die Leiche umgedreht, sodass die Schusswunde in Jeans Rücken zu sehen war. »Hier unten, im Lendenwirbelbereich.«
    Ren trat einen Schritt vor. Dadurch bot sich ihr ein besserer Blick und die Gelegenheit, erneut zu würgen. Vom Tattoo war nur ein Wirrwarr aus schwarzen, mit dunkler Tinte gestochenen Linien übrig geblieben.
    »Was ist das?«, fragte Ren. »Was soll das darstellen?«
    »Ich weiß es nicht«, gab Tolman zu.
    »Habt ihr eine Vorstellung?«, fragte Ren die anderen.
    Sie traten näher an die Leiche heran. Keiner hatte eine Idee.
    Robbie machte ein Foto von dem Tattoo.
    Es gab unterschiedliche Gründe, warum die Leute sich Tattoos stechen ließen. Einige wollten auffallen, anderen gefiel es, dieHaut mit einem Kunstwerk zu versehen. Anderen wiederum ging es darum, etwas zu verbergen oder Narben zu verdecken. Doch Jean Transom mit ihrer schlichten Unterwäsche, ihrer unauffälligen Kleidung und ihrem ungeschminkten Gesicht schien in keine dieser Kategorien zu passen.
    Was für ein Mensch war Jean gewesen, ehe sie Special Agent beim FBI geworden war?

    Patrick Transom bemühte sich nach Kräften, mit seiner Trauer und der erneuten Anwesenheit des FBI in seinem Haus fertig zu werden. Ren saß neben ihm am Küchentisch und zeigte ihm ein Foto, auf dem ein Teil von Jeans Tattoo zu sehen war.
    »Ich wollte Sie fragen, ob Sie Jean anhand dieses Tattoos identifizieren können«, sagte Ren.
    »Was ist das?«, fragte Patrick.
    »Ein Teil einer Tätowierung.«
    »Jean hatte eine Tätowierung?« Patrick schüttelte den Kopf. »Noch etwas, wovon ich nichts wusste. Als Sheriff Gage gestern Abend hier war und mir sagte, der Leichnam sei gefunden worden, war ich … Es war ein Schock. Ich kann diese Überraschungen nicht mehr verkraften. Ich weiß, das ist nicht das richtige Wort, aber …«
    »Sie sind Jeans Bruder«, sagte Ren. »Und dieses Tattoo war tief unten auf ihrem Rücken.«
    »Verstehe. Aber dass ich nichts davon wusste …« Patrick strich sich mit der Hand durchs Haar. »Ich würde mich Jean gerne näher fühlen, stattdessen entferne ich mich immer weiter von ihr. Alles, was ich über sie zu hören bekomme, gibt mir das Gefühl, ein falsches Bild von ihr gehabt zu haben. Und das ist schrecklich, weil ich deswegen wütend auf Jean bin. Ich möchte sie gerne nach diesen Dingen fragen. Ich möchte mit ihr reden. Sie soll mir erklären, warum sie mir so viele Dinge verheimlicht hat, auch wenn es nur Kleinigkeiten sind …«
    »Sie hat Ihnen nichts verheimlicht«, unterbrach Ren ihn. »Sie war zurückhaltend.«
    »Ja, das stimmt. Das war sie schon als Jugendliche.«
    Patrick ging zur Eckvitrine, nahm ein Foto aus einer Schublade und reichte es Ren. Ren betrachtete das Bild und warf Patrick dann einen Blick zu.
    Patrick nickte. »Das ist wirklich Jean.«
    »Nicht zu fassen.« Ren staunte nicht schlecht.
    Jean Transom war eine schlanke, blonde, sportliche FBI-Agentin gewesen. Auf dem Foto jedoch war eine düstere, schwarzhaarige, übergewichtige Gothic-Jüngerin zu sehen.
    »Das nenne ich eine krasse Veränderung«, sagte Ren.
    »Kann man wohl sagen.«
    Ren reichte Patrick das Foto zurück. Wieder starrte er darauf. »Man sollte meinen, das ist gar nicht Jean«, sagte er. »Aber sie ist es. Sie, Ren, wären nicht hier, wenn Sie die

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