Weißer Fluch: Band 1 (German Edition)
alle Vorteile auf ihrer Seite haben. Ich sehe mir die Fotos noch mal an und kann den Blick nicht von den brutal zerstümmelten Gliedmaßen wenden, die dunkel verheilt sind und wahrscheinlich versengt wurden.
Sie beobachtet mich.
» Das Erstaunlichste ist « , sagt Mrs Wasserman, » dass einige von ihnen gelernt haben, mit den Füßen Fluchmagie zu betreiben. «
» Echt? « Ich schaue zu ihr hoch.
Sie lächelt. » Wenn mehr Leute das wüssten, wären Handschuhe nicht mehr so beliebt. Das Tragen von Handschuhen geht bis ins Oströmische Reich zurück. Damals trug man sie als Schutz vor der sogenannten Berührung. Die Menschen glaubten, unter ihnen würden Dämonen wandeln, deren Berührung Chaos und Schrecken verbreitete. In dieser Zeit hielt man Fluchmagier für Dämonen, mit denen man gegen hohe Belohnungen verhandeln konnte. Hatte man ein Fluchwerkerkind, lag es daran, dass es von einem Dämon besessen war. Justinian der Erste– der Kaiser– schloss all diese Kinder in einen Turm ein, um eine unschlagbare Dämonenarmee zu schaffen. «
» Warum erzählen Sie mir das alles? Ich weiß, dass die Leute sich die idiotischsten Sachen über Fluchwerker ausgedacht haben. «
» Weil Zacharov und die anderen Bosse der Verbrecherclans das Gleiche tun. Ihre Leute treiben sich in den Großstädten an den Bushaltestellen herum und fangen Ausreißer ab. Sie geben ihnen ein Dach über dem Kopf, ein paar kleinere Aufträge, und ehe sie sich versehen, sind sie wie die byzantinischen Kinderdämonen und so abhängig, dass sie genauso gut Gefangene oder Prostituierte sein könnten. «
» Bei uns wohnt zurzeit ein Junge « , sagt Daneca. » Er heißt Chris; seine Eltern haben ihn vor die Tür gesetzt. «
Der blonde Junge auf der Treppe.
Mrs Wasserman sieht Daneca streng an. » Diese Geschichte darf nur Chris selbst erzählen. «
» Ich muss gehen « , sage ich und stehe auf. Mir ist unbehaglich, als wäre mir die Haut zu eng. Dieses Gespräch geht mir auf die Nerven.
» Vergiss nicht, dass ich dir helfen kann, wenn du so weit bist « , sagt sie. » Du könntest viele Jungen aus Türmen retten. «
» Ich bin nicht der, für den Sie mich halten « , sage ich. » Ich bin kein Fluchwerker. «
» Das ist auch nicht nötig « , sagt Mrs Wasserman. » Du weißt bestimmte Dinge, Cassel. Dinge, die Leuten wie Chris helfen könnten. «
» Ich bringe dich zur Tür « , sagt Daneca.
Ich bekomme kaum noch Luft und habe es eilig rauszukommen. » Geht schon « , murmele ich. » Bis morgen. «
ELFTES KAPITEL
ALS ICH PHILIPS UND MAURAS Wohnung betrete, duftet es bereits köstlich nach Lamm mit Knoblauch. Obwohl er mich hierher gescheucht hat, liegt Großvater schlafend im Lehnstuhl. In seiner schlaffen Linken hält er ein Rotweinglas, das er auf dem Bauch abgestellt hat. Es neigt sich bereits leicht in Richtung Brust. Im Fernsehen fordert ein Fundi-Prediger Fluchwerker auf, sich freiwillig testen zu lassen, damit alle Menschen sich ohne Handschuhe als Freunde die Hand geben können. Er predigt, jeder wäre ein Sünder und die Macht als solche allzu verlockend. Die Fluchwerker würden ihr letztendlich doch verfallen, wenn man sie nicht in Schach hielte.
Vielleicht hat er sogar recht, bis auf diesen Handberührungskram mit wildfremden Menschen, was wirklich eklig klingt.
Ich höre Tellergeklapper, als Philip aus der Küche kommt. Bei seinem Anblick zucke ich zusammen. Es ist, als würde ich ihn auf bizarre Art doppelt sehen: Philip, mein Bruder– und Philip, der wahrscheinlich Barrons und meine Erinnerungen stiehlt.
» Du bist spät dran « , sagt er.
» Was gibt’s zu feiern? « , frage ich. » Maura übertrifft sich ja selbst. «
Hinter Philip erscheint Barron mit zwei weiteren Gläsern Wein. Er sieht dünner aus als bei unserer letzten Begegnung. Seine Augen sind blutunterlaufen, und sein Anwaltshaarschnitt ist ausgefranst und struppig, die Haare locken sich im Nacken. » Sie rastet gleich aus. Sagt ständig, dass sie noch nie eine Dinnerparty veranstaltet hat. Geh lieber wieder rein, Philip. «
Ich hätte gern Mitleid mit ihm empfunden wegen der wirren Tagebuch-Einträge, aber vor meinem inneren Auge sehe ich den kleinen Eisenkäfig auf dem Fußboden, klebrig vor lauter Pisse. Ich stelle mir vor, wie er die Musik lauter gedreht hat, um Lila nicht kreischen zu hören.
Philip wirft die Hände in die Luft. » Maura macht aus jeder Mücke einen Elefanten. « Er geht wieder in die Küche.
» Sag schon, was machen wir hier? « ,
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