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Weißer Mann mit Brille

Weißer Mann mit Brille

Titel: Weißer Mann mit Brille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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gereizt.
    »Sir James, ihr Mann, begibt sich nicht gern auf Reisen. Er ist eine Kapazität in militärischen Fragen. Seine Ruhe geht ihm über alles.«
    »Ich verstehe!« Es gelang ihr, ohne jede Ironie zu sprechen.
    »Ferdinand aber hat nichts verstanden …! In den letzten Tagen hätte ich es ihm gerne erklärt, doch es ging einfach nicht …«
    Sie schwiegen lange. Sie kamen durch ein Dorf, dessen Einwohner sich in ihre Hütten flüchteten.
    »Ich glaube, daß er es dort verstehen wird …«, sagte Philps schließlich.
    »Dort?«
    »In Istanbul. Sir James hat zwar im Botschaftsgebäude in Therapia ein Zimmer, aber in Pera besitzt er eine neue Wohnung. Kennen Sie Pera?«
    »Nein!«
    »Es gleicht ein wenig dem französischen Auteuil: uniformierte Kindermädchen, Babys, die in allen Sprachen babbeln, Teegesellschaften, Tanzabende, Bridge-Partien …«
    Sie gab sich alle Mühe, zu verstehen, was ihr Begleiter wirklich meinte. Warum hatte er nur gesagt, daß Ferdinand dort begreifen würde? War es die Begegnung mit der heiteren Urbanität des in konventionellen Bahnen verlaufenden Lebens, das dem Reichtum vorbehalten ist, mit Lady Makinson im Kreise ihrer Kinder und ihrer Freunde?
    »Noch sechzig Kilometer, dann stoßen wir auf den Briefkasten!« verkündete Philps.
    Während dieser sechzig Kilometer schwiegen beide. Emilienne sah den Kasten mit den Initialen F. G. als erste. Hier also warf er jede Woche seine Briefe ein …
    Sie nahm die Kurve ein wenig zu schnell, entschuldigte sich, gab unwillkürlich Gas, brachte die Strecke bis zum Bungalow hinter sich, ohne der Entfernung gewahr zu werden. Das Aluminiumauto stand bereits neben dem Flugzeug, das man schon ganz in die Nähe des Hauses befördert hatte.
    Ein hochgewachsener junger Mann mit Ledergamaschen öffnete die Wagentür und stammelte:
    »Mademoiselle Emilienne!«
    »Guten Tag, Camille!« sagte sie ruhig.
    »Major Crosby hat mir eben mitgeteilt …«
    »Würden Sie meine Koffer ins Zimmer bringen? Das übrige Gepäck kommt in einem Monat mit dem Schiff nach.«
    Sie sah alles, hörte alles, nahm die Atmosphäre Afrikas in sich auf, doch gleichzeitig wirkte sie wie eine Frau, die nach Hause zurückkehrt.
    »Was möchten Sie trinken, Captain?« fragte sie Philps, als sie auf die Veranda traten. »Sind Sie schon lange hier, Major Crosby?«
    Dieser sah sie überrascht an, denn sie hatte sehr gutes Englisch mit einem bezaubernden kleinen Akzent gesprochen.
    »Nicht ganz ein Stündchen …«
    »Camille!«
    »Ja, Mademoiselle …«
    »Ich nehme an, daß genug Vorräte im Haus sind, um Major Crosby und Captain Philps bei uns zu verköstigen.«
    »Wir haben immer Fisch und Konserven vorrätig, Mademoiselle …«
    Sie spürte ihre Müdigkeit erst, als sie in einem Deckstuhl saß. Sie würde sich lange ausruhen und mit sich allein sein müssen, bevor sie sich überhaupt wieder bewegen und sprechen konnte!
    »Captain, schenken Sie doch bitte den Whisky ein!«
    Sie preßte ihre regennasse Hand gegen die Stirn, die trotz ihrer marmornen Blässe glühend heiß war.

7
    Allmählich verklang das Brummen des davonfahrenden Wagens. Emilienne trat ins Wohnzimmer, wo die ausgetrunkenen Gläser und die vollen Aschenbecher noch anzeigten, wo die Besucher gesessen hatten. Ganz unvermittelt löste sich die Anspannung in ihren Zügen. Doch nicht nur ihr Gesicht fiel in sich zusammen, auch ihre Schultern verloren ihre Straffheit, und in einer wilden, verzweifelten Gebärde hob sie die Arme, zerraufte ihr stets tadellos gekämmtes Haar. Eine Strähne fiel ihr über die linke Wange.
    »Mein armer Camille!« murmelte sie, suchte mit müden Augen nach einer Sitzgelegenheit, ohne sich für einen Sessel entscheiden zu können, um sich darein fallen zu lassen.
    »Es war schon ein arger Schock, als Sie auf einmal hier aufkreuzten«, gestand Camille. »Darauf war ich nun überhaupt nicht gefaßt.«
    Endlich setzte sie sich, schenkte sich ein Glas Wasser ein, das sie in kleinen Schlückchen leerte.
    »Sie haben mich wirklich angestrengt!«
    Dabei hatte sie alles getan, um Philps und den Major zurückzuhalten. Sie hatte sie nicht nur zum Mittagessen eingeladen, sondern sie dann noch in ein belangloses Gespräch verwickelt, nur um diese schreckliche Minute hinauszuzögern, die nun doch gekommen war.
    »Setz dich, Camille. Du weißt doch, daß wir uns keinen Zwang antun müssen.«
    Auch sie hatten als Kinder miteinander gespielt, und sie waren genau gleichaltrig. Früher hatten sie einander geduzt,

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