Weißer Mann mit Brille
Frau, deren Vater ein bekannter Brüsseler Anwalt ist, beklagt sich von morgens bis abends. Alle Neuen, vor allem junge Leute, sind Ihnen ein Dorn im Auge, weil sie eines Tages einen höheren Rang bekleiden werden. Costemans behandelt meinen Mann, wie man in einer großen Verwaltungsbehörde nicht mit dem kleinsten Angestellten umspringen würde. Wenn er nur eine Minute zu spät kommt, macht er ihm schon eine Szene.«
Durch das Fenster sah man in hundert Meter Entfernung den anderen Bungalow, den die Costemans bewohnten.
»Ich bin zwischen dem Place de la République und der Bastille geboren, dessen brauche ich mich nicht zu schämen. Ich sage offen meine Meinung und lasse mir nicht das Maul verbieten. Ich habe ihnen gründlich Bescheid gesagt. Seither reden Costemans und mein Mann nicht mehr miteinander, und wenn sie sich dienstlich etwas mitzuteilen haben, schreiben sie es auf einen Zettel …«
Man mußte sie ausreden lassen. Sie nahm einen neuen Anlauf:
»Wetten, daß Sie den Alkoholgeruch an Georges bemerkt haben! Er fürchtet, seinen Posten zu verlieren und keinen anderen zu finden. Er behauptet, daß er es wegen der Malaria in Europa zu nichts bringen könne. Und mir schiebt er die Verantwortung in die Schuhe, und wir geraten dauernd aneinander. Was kann denn ich dafür? Heute morgen hat er sein Frühstück stehenlassen. Als ich hinter ihm herlief, drehte er sich um und zeigte mir die geballte Faust …«
Emilienne erhob sich.
»Bleiben Sie noch!« flehte Yette. »Ich weiß, daß ich Ihnen lästig falle. Aber außer Georges sind Sie der erste Mensch seit zehn Tagen, mit dem ich reden kann. Ich habe Ihnen nicht einmal etwas angeboten. Was möchten Sie trinken?«
Sie roch nach Schweiß und feuchtem Krepp.
»Haben Sie Nachricht von Ferdinand? Nein? Gestern hat Georges zu mir gesagt:
›Da siehst du mal, dein Ferdinand taugt auch nicht mehr.‹
Ich habe nämlich immer von Ferdinand geredet … Jetzt weiß ich auch nicht mehr so recht …«, seufzte sie. Endlich setzte sie sich und wischte sich mit einem Handtuch über das schweißnasse Gesicht.
»Doch, doch! Versprechen Sie mir, daß Sie mit uns mittagessen …«
»Ich werde mein möglichstes tun …«
Als sie den Bungalow hinter sich ließ, atmete sie erleichtert auf. Von weitem hatten sie gesehen, daß die Eingeborenen aus dem Gerichtsgebäude strömten, unter ihnen ein Weißer in der Uniform eines hohen Kolonialbeamten, der mit langen Schritten auf das Büro zusteuerte.
Emilienne und Camille wären an der Tür fast mit ihm zusammengestoßen.
»Wollen Sie mich sprechen?« fragte Costemans, während er seinen Platz einnahm und die Akten vor sich ausbreitete.
»Ich bin die Verlobte von Ferdinand Graux.«
»Sehr erfreut!« sagte er und nickte.
Mehr sagte er nicht.
»Ich glaube, daß Sie seine Plantage betreffende Papiere aus Brüssel erhalten haben, und da er gerade abwesend ist, habe ich Sie aufgesucht.«
Im Unterschied zu dem nervösen Bodet wirkte Costemans ungeheuer ruhig. Mit seiner Gesundheit stand es wohl nicht zum besten, denn obwohl er ein noch junger Mann war, hatte er dunkle Schatten unter den Augen.
»Ich habe eine gültige Vollmacht.«
Er streckte die Hand nach dem Dokument aus und murmelte:
»Entschuldigen Sie bitte … Im Gerichtssaal war es fürchterlich heiß … Dazu der Geruch von vierzig oder fünfzig eingeschlossenen Negern …«
Bodet füllte unterdessen amtliche Formulare aus.
»Ich sehe, daß alles in Ordnung ist. Aber es ist Mittagszeit …«
»Sind Sie damit einverstanden, daß wir uns erst nach dem Essen mit Ihrer Angelegenheit befassen? Aber ja! Meine Frau wird entzückt sein, Ihre Bekanntschaft zu machen.«
Die Einladung kam reichlich unerwartet, doch hinter seinen freundlichen Worten spürte man kühles Mißtrauen.
»Gestatten Sie, daß ich vorangehe …«
»Aber …«
Sie warf Bodet einen Blick zu, als wollte sie ihm sagen, daß es nicht ihre Schuld war.
Als endlich die Haustür hinter ihnen ins Schloß gefallen und die Lampen entzündet waren, Emilienne sich Camille gegenüber an den Tisch mit der rotgewürfelten Decke setzte, ihre Serviette aus der bestickten Tasche nahm, da überkam sie mit einem Male ein Schwindelgefühl, wie sie es aus ihrer Kindheit kannte, wenn sie in den ersten Frühlingstagen von morgens bis abends im Freien herumgetobt hatte.
Sie empfand es als eine Wohltat, ihren Blick über die Backsteinmauer schweifen zu lassen, wo die Gewehre hingen, über die schlichten, schweren
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