Weisser Oleander
er war. Ich ging weiter und betrachtete die Umrisse der Felsen und das Blau ihrer Schatten. Ich hatte das Gefühl, dass sie bewohnt waren; Leute, die im Verborgenen warteten. Der Junge folgte mir.
»Kaninchen«, sagte er und deutete auf den staubigen Boden.
Ich konnte die verwischten Spuren kaum erkennen: zwei größere Abdrücke, gefolgt von einem kleineren und dann noch einer. Er lächelte mit leicht vorstehenden Zähnen und erinnerte dabei selbst ein bisschen an ein Kaninchen. Eigentlich hätte er in seinem Alter vor dem Fernseher oder in einer Bücherei sitzen sollen, doch er konnte den fahlen Staub lesen wie andere Jungen Comic-Heftchen, wie meine Mutter ihre Tarotkarten. Ich wünschte, er könnte im Staub meine Zukunft lesen.
»Du siehst eine ganze Menge«, sagte ich.
Er lächelte. Er war ein Junge, der die Aufmerksamkeit anderer genoss. Er erzählte mir, dass er Davey hieß; er war Starrs leiblicher Sohn. Es gab auch noch eine Tochter, Carolee. Die beiden anderen Jungen, Owen und Peter, waren genau wie ich Pflegekinder. Doch selbst Starrs eigene Kinder waren eine Zeit lang in Pflege gewesen, während Starr in einer Rehabilitationsmaßnahme war.
Wie vielen Kindern war das wohl passiert? Wie viele Kinder waren wie ich, schwebten wie Plankton im riesigen Ozean? Ich dachte daran, wie dünn die Verbindungen zwischen Eltern und Kindern doch sind, zwischen Freunden, innerhalb der Familie, Dinge, von denen man eigentlich annimmt, dass sie ewig dauern. Alles kann man verlieren, schneller, als es sich irgendjemand vorstellen kann.
Wir liefen weiter. Davey zupfte an einem Strauch mit leuchtendgelben Blüten. »Hornklee. Familie der Schmetterlingsblütler.« Ein Windhauch zog durch den Canyon und ließ die Bäume grün und grau flimmern. »Paloverde hat die grüne Rinde, das andere ist Eisenholzbaum.«
Die Stille, die kompakte Masse des Berges, die weißen Schmetterlinge. Grüner Duft nach Lorbeersumach, den die hier ansässigen Indianer benutzt hatten, um die Luft in ihren Reisighütten zu süßen, wie mir Davey mitteilte. Hohe Grasbüschel, die noch grün waren, aber schon knisterten wie Feuer. Zwei Habichte zogen schreiend ihre Kreise im saumlosen blauen Himmel.
In dieser Nacht zierten Cowboys auf wilden Mustangs, Lassos und Sporen meinen Schlafsack. Ich lag mit geöffnetem Reißverschluss da, um die kühle Luft hereinzulassen, und beobachtete Carolee, sechzehn Jahre alt und groß wie ihre Mutter, ein mürrisches Mädchen mit Schmollmund, wie sie sich gerade den Reißverschluss ihres Pullis zuzog. »Die bildet sich ein, sie kann mir Hausarrest geben«, sagte Carolee zu ihrem Spiegelbild. »Da hat sie sich aber geschnitten!«
Auf der anderen Seite der dünnen Wand trieben die Mutter und ihr Hippiefreund es gerade miteinander, das Kopfende ihres Bettes schlug dabei gegen die Trennwand. Es hatte wenig mit der Magie der Nacht zu tun, wie sie meine Mutter mit ihren jungen Männern pflegte, wenn sie in der duftenden Dämmerung zu japanischen Koto-Klängen ihre Zärtlichkeiten murmelten.
»Herr im Himmel!«, heulte Starr auf.
Carolees Mund verzog sich zu etwas, was nicht ganz einem Lächeln gleichkam, während sie den Fuß auf ihr Bett stellte und sich den Stiefel zuschnürte. »Christen sagen nicht: ›Fick mich, Baby!‹ Eigentlich sollten sie es ja gar nicht machen, aber sie hat den Sündenvirus im Blut!« Sie stellte sich vor dem Spiegel in Positur und zog den Reißverschluss ihres Pullis ein Stückchen auf, sodass man die Vertiefung zwischen ihren Brüsten sehen konnte. Dann bleckte sie die Zähne und wischte sich mit dem Finger darüber.
Draußen heulte ein Motorrad auf. Sie öffnete das Fenster, stieg auf die Kommode und fegte dabei beinahe ihr Make-up-Körbchen hinunter. »Bis morgen früh. Lass das Fenster offen stehen.«
Ich stand auf und schaute ihr nach, wie sie hinten auf der Geländemaschine die Straße entlangfuhr und dann im Dunkeln verschwand. Die Straße leuchtete breit und weiß im Mondlicht, die Berge waren dunkler als der Himmel, ein perfekter Fluchtpunkt für Straße und Telegrafenmasten. Ich stellte mir vor, dass man der Straße durch ihren Fluchtpunkt hindurch folgen könnte und irgendwo ganz anders herauskommen würde.
»Ohne Jesus wär ich heut schon tot!«, sagte Starr, während sie die Spur eines LKW schnitt, der uns mit lautem Hupen bestrafte. »Bei Gott, das ist die Wahrheit. Meine Kinder hatten sie mir schon weggenommen, und ich war reif für die Klapse.«
Ich saß auf dem
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