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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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Wand verursachte. Er war ein unscheinbarer Mann, hatte ein hageres Gesicht, traurige Augen, und sein langes Haar ergraute schon. Wir sollten ihn »Onkel Ray« nennen. Er öffnete den Kühlschrank und holte eine Bierdose heraus. Schhhht , seufzte sie, als er den Verschluss aufriss.
    »Du lässt dir also die Jesus-Show entgehen.« Er trank sein Bier weniger, als dass er es die Kehle hinunterkippte.
    »Du doch auch«, sagte ich.
    »Lieber lass ich mich erschießen«, sagte er. »Hier ist meine Theorie: Wenn es einen Gott gibt, dann ist er so beschissen, dass er die ganzen Gebete gar nicht verdient.« Er rülpste laut und grinste.
    Ich hatte nie viel über Gott nachgedacht. Wir hatten die Götterdämmerung, wir hatten die Weltesche. Wir hatten den Olymp und seine Skandale, Ariadne und Bacchus, die Vergewaltigung der Danae. Ich kannte Shiva, Parvati und Kali und die Vulkangöttin Pele, doch meine Mutter hatte sich jegliches Gespräch über Jesus Christus verbeten. Sie wollte sich noch nicht mal das Krippenspiel in der Schule ansehen. Ich musste eine Fahrgelegenheit bei einer Mitschülerin erbetteln.
    Das, was meiner Vorstellung von Gott am nächsten kam, war der blaue, wolkenlose Himmel und eine ganz bestimmte Stille. Doch wie sollte man zu so etwas beten?
    Onkel Ray lehnte rauchend im Türrahmen und betrachtete den großen Peruanischen Pfefferbaum und seinen Pick-up im Hof. Er schlürfte sein Bier, das er in derselben Hand hielt wie die Zigarette, ziemlich geschickt für jemanden, dem zwei Finger fehlten. Er blinzelte, während er den Rauch durch das Fliegengitter nach draußen blies. »Er will sie bloß vögeln. Wahrscheinlich wird er ihr bald sagen, dass sie mich in den Wind schießen soll; dann hol ich aber meine 38er und zeig ihm mal, wo’s langgeht. Dann wird er sein Blut des Lammes fließen sehen!«
    Ich pulte die Marshmallows aus meinen Frühstücksflocken und ordnete sie auf dem Rand der Schüssel an, purpurrote Monde und grüne Kleeblätter. »Wenn man verheiratet ist, ist es keine Sünde«, sagte ich. Ich dachte, er hätte mich nicht gehört, doch das hatte er offenbar.
    »Ich bin schon verheiratet«, sagte er, während er durch das Fliegengitter den Pfefferbaum betrachtete, dessen Zweige wie lange Frauenhaare wehten. Er grinste mir über die Schulter zu. »Mich hat der Virus ganz ordentlich erwischt!«
    Ich legte abwechselnd einen Mond und ein Kleeblatt auf den Rand und aß die Marshmallows, die in die Schüssel fielen. »Wo ist deine Frau?«
    »Keine Ahnung. Hab sie zwei, drei Jahre nicht mehr gesehen.«
    Es schien ihn gar nicht zu berühren, dass jemand mit seinem Namen und seiner Geschichte durch die Gegend lief und er nicht einmal wusste, wo sie sich aufhielt. Mir wurde ganz schwindlig davon; am liebsten hätte ich nach irgendetwas Schwerem gegriffen und mich daran festgehalten. So sah das Leben aus, das ich führen würde: einer vom anderen getrennt, jeder klammerte sich einen Augenblick lang fest, nur um dann weitergespült zu werden. Ich könnte erwachsen werden und ebenfalls davontreiben. Meine Mutter würde vielleicht nie erfahren, wo ich war, und wenn in ein paar Jahren jemand nach mir fragen sollte, würde sie vielleicht auch mit den Schultern zucken und sagen: »Hab sie zwei, drei Jahre nicht mehr gesehen.«
    Es traf mich wie ein Schlag in die Magengrube. Ich könnte jahrelang weiterleben und sie nie wieder sehen. Einfach so. Leute verloren einander, in der Menge entglitt eine Hand der anderen. Vielleicht würde ich sie nie wieder sehen. Diese trüben Augen hinter dem Aquarienglas, die Umrisse ihres Rückens. Mein Gott, wie hatte ich das die ganzen Monate über verdrängen können? Ich wollte meine Mutter, ich wollte etwas, was mich festhielt und mich nicht mehr losließ.
    »Hey, was ist das denn?« Onkel Ray setzte sich neben mich an den Tisch. Er drückte seine Zigarette in der Bierdose aus und nahm meine Hände. »Wein doch nicht, Mädchen. Was ist denn los? Du kannst es Onkel Ray ruhig erzählen.«
    Doch ich konnte nur meinen Kopf schütteln, wundes Schluchzen wie Rasierklingen.
    »Fehlt dir deine Mom?«
    Ich nickte. Meine Kehle fühlte sich an, als hielten zwei Hände sie umklammert und pressten das Wasser aus meinen Augen. Rotz lief mir aus der Nase. Ray rückte seinen Stuhl näher, sodass er den Arm um mich legen konnte, und gab mir eine Papierserviette vom Tisch. Ich vergrub das Gesicht an seiner Brust und ließ Rotz und Tränen auf sein T-Shirt laufen. Es war ein schönes Gefühl,

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