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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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und Blut übergegangen war. Vergiss nie, wer du bist .
    Ich wollte es stechen. Ich stellte mir vor, wie sich die Messerspitze in es hineinbohrte, in sein Genick glitt, in die Einbuchtung unterhalb seines Kopfes, die wie ein Brunnen war. Es lag sehr still und wartete, was als Nächstes kommen würde. Ich betrachtete meine Hand; eine Hand, die wusste, wie man ein Messer hielt, wie man es in die Wirbelsäule eines durchgeknallten Mädchens stieß. Es war nicht meine. Das war ich nicht. So war ich nicht.
    »Spuck es aus!«, zischte ich ihm ins Ohr.
    Es spuckte die Fetzen aus, seine Lippen brummten wie die eines Pferdes.
    »Lass bloß die Finger von meinen Sachen«, sagte ich.
    Es nickte.
    Ich ließ es aufstehen.
    Es ging zu seinem Bett zurück und begann wieder, sich die Haut mit der Sicherheitsnadel aufzupulen. Ich steckte das Messer in meine Hosentasche zurück und hob die zerknüllte Seite und die Papierfetzen auf.
    Die Nichte und ihr Freund saßen am Küchentisch, tranken Colt-45-Bier und hörten Radio. Sie stritten. »Du wirst das Geld im Leben nicht zu Gesicht kriegen, du Trottel!«, sagte sie. Sie sahen mich nicht. Sie sahen keinen von uns. Ich nahm die Tesa-film-Rolle und ging zurück auf mein Zimmer.
    Ich flickte die zerrissene Seite und klebte beide Seiten wieder in das Buch zurück. Es war ihr erstes Buch gewesen, ein indigoblauer Umschlag mit einer silbernen Mondwinde, einer Jugendstilblume. Ich ließ meinen Finger an der silbernen Linie entlanggleiten; Windungen wie Rauch, wie eine Peitschenschnur.
    Es war ihr Exemplar für Lesungen, sie hatte sich mit einem weichen Bleistift am Rand Notizen gemacht . Pause. Stimme heben . Ich berührte die Seiten, die ihre Hände berührt hatten, presste sie an meine Lippen, das weiche, dicke Papier, das inzwischen vergilbt und brüchig wie alte Haut war. Ich steckte die Nase zwischen die Buchdeckel und roch alle Lesungen, die sie gehalten hatte, den Geruch nach Zigaretten ohne Filter und der Espressomaschine, nach Strand, Duftöl und Worten, die in die Nacht geflüstert wurden. Ich konnte hören, wie ihre Stimme sich aus den Seiten erhob. Der Einband kräuselte sich wie ein Segel.
    Das Foto auf dem Buchrücken. Meine Mutter in einem kurzen Kleid mit langen, weiten Ärmeln; sie trug eine Ponyfrisur, unter der die Augen hervorspähten. Wie eine Katze, die unter einem Bett hervorlugte. Diese schöne junge Frau, sie war ein Universum; sie überbrachte Worte, die wie Gongschläge tönten, die sich überschlugen wie Flötenklänge aus menschlichen Knochen. Auf dem Foto war noch nichts von all dem passiert. Damals war ich noch sicher gewesen, ein stecknadelkopfgroßes Ei in ihrem rechten Eierstock, und wir waren nie getrennt.
    Als ich zu sprechen begann, schickten sie mich in die Schule. Dort hieß ich nur »das weiße Mädchen«. Ich war ein Albino, eine Missgeburt. Ich hatte überhaupt keine Haut. Ich war durchsichtig, man konnte mein Blut zirkulieren sehen. Während der Unterrichtsstunden malte ich Bilder. Ich zeichnete auf Lochkarten und verband die Löcher zu neuen Sternbildern.

5

    Die Sozialarbeiter wechselten, blieben sich aber immer gleich. Sie gingen mit mir zu McDonald’s, klappten ihre Aktenordner auf und stellten ihre Fragen. McDonald’s machte mir Angst. Es gab dort zu viele Kinder, die brüllend und kreischend von der Rutschbahn in Gruben mit bunten Gummibällen hinuntersausten. Ich hatte nichts zu sagen. Diesmal war der Sozialarbeiter männlich, weiß und hatte einen gestutzten Bart wie der Pikbube. Seine Hände waren quadratisch wie Schaufeln, am kleinen Finger trug er einen Siegelring.
    Er fand eine dauerhafte Pflegestelle für mich. Als ich das Übergangsheim am Crenshaw Boulevard verließ, verabschiedete sich niemand von mir. Doch das Mädchen mit den Narbentätowierungen stand auf der vorderen Veranda und starrte mir hinterher, als ich wegfuhr. Zwischen den Bäumen tauchten immer wieder dicke Büschel violetter Jacarandablüten auf, während wir über die grauweißen Straßen holperten.
    Um zu meinem neuen Zuhause zu gelangen, mussten wir über vier Freeways fahren. Wir bogen auf eine Straße ab, die steil anstieg wie eine Laderampe. Auf den Hinweisschildern stand »Tujunga«. Die niedrigen Ranchhäuser wurden größer, dann wieder kleiner, die Vorgärten und Höfe immer unordentlicher. Die Bürgersteige verschwanden. Auf den Veranden türmten sich Möbel wie große Giftpilze. Eine Waschmaschine, altes Gerümpel, eine weiße Henne, eine Ziege. Schließlich

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