Weisser Oleander
wieder über einem schloss, als sei man nie dagewesen. Wie Persephone, die von dem Gott geraubt wurde. Die Erde brach auf, und da war er, riss sie auf seinen schwarzen Triumphwagen. Und hinab fuhren sie, unter die Erde, in die Dunkelheit, der Boden schloss sich über ihrem Kopf, und weg war sie, als sei sie nie da gewesen.
So kam es, dass ich unter der Erde lebte, im Haus des Schlafes, im Haus der Gummiunterlagen, der schreienden Babys und braunen Rosenmuster, vierzig senkrecht, zweiundneunzig waagerecht. Dreitausendsechshundertachtzig braune Rosen.
Einmal brachten sie mich zu ihr, ich sah sie hinter einer Glaswand. Sie trug einen orangefarbenen Overall wie ein Automechaniker, und irgendetwas stimmte nicht mit ihr. Ihre Augen waren ganz verschleiert. Ich sagte ihr, dass ich sie lieb hatte, doch sie erkannte mich nicht. So sah ich sie in meinen Träumen, wieder und wieder, ihre blinden Augen.
Es war das Jahr der Münder. Münder, die sich öffneten und schlossen, immer wieder dieselben Fragen stellten und dasselbe sagten. Erzähl uns, was passiert ist. Sag uns, was wir wissen wollen. Ich wollte ihr gern helfen, doch ich wusste nicht, wie. Ich konnte keine Worte finden, ich hatte keine Worte. Im Gerichtssaal trug sie ein weißes Hemd. Ich sah dieses Hemd im Wachen und im Schlaf. In diesem Hemd sah ich sie im Zeugenstand, mit Augen so blicklos wie die einer Puppe. Ich sah ihren Rücken in diesem weißen Hemd, als sie abgeführt wurde. Fünfunddreißig bis lebenslänglich, sagte jemand. Ich kam nach Hause, zählte Rosen und schlief.
Wenn ich wach war, versuchte ich mich an die Dinge zu erinnern, die sie mir beigebracht hatte. Wir waren die Stäbe. Wir hängten unsere Götter an Bäumen auf. Erlaube einem Mann niemals, über Nacht zu bleiben. Vergiss nie, wer du bist. Doch ich konnte mich nicht mehr erinnern. Ich war das verkrüppelte Mädchen, Steine im Mund, verloren auf dem Schlachtfeld, Gummiunterlagen auf dem Bett. Ich war die Wäscheaufsicht, ich half der Nichte, die Wäsche in den Waschsalon zu bringen. Ich sah zu, wie die Wäsche sich drehte. Ich mochte den Geruch, ich fühlte mich sicher dabei. Ich schlief, bis mir der Schlaf wie Wachsein vorkam und das Wachsein wie Schlaf. Manchmal lag ich auf meinem Bett in dem Rosenzimmer und beobachtete das andere Mädchen dabei, wie es mit einer Sicherheitsnadel Tätowierungen in seine aschgraue Haut stach, eine Windel-Sicherheitsnadel mit einer gelben Ente darauf. Sie ritzte Linien und Windungen. Die Haut verheilte zu rosa Gewebekissen. Sie pulte sie wieder auf. Ich brauchte eine Weile, doch schließlich begriff ich: Sie wollte, dass man es sah.
Ich träumte, dass meine Mutter mich in der ausgebrannten Stadt verfolgte, blind und unnachgiebig. Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit . Ich wollte lügen, doch die Worte ließen mich im Stich. Sie war diejenige, die immer für uns gesprochen hatte. Sie war die Göttin, die die goldenen Äpfel fallen ließ. Die Leute bückten sich, um sie aufzuheben, und wir flohen. Doch als ich in meine Tasche griff, waren da nur Staub und vertrocknete Blätter. Ich hatte nichts, womit ich sie beschützen konnte; nichts, um ihren bloßen Körper zu bedecken. Durch mein Schweigen hatte ich sie verurteilt, hatte uns beide verdammt.
Einmal wachte ich auf und sah, dass das Mädchen aus dem anderen Bett in meiner Kommodenschublade herumschnüffelte. Es sah sich ein Buch an und blätterte darin. Das Buch meiner Mutter. Meine schlanke, nackte Mutter, allein unter den Schwarzhemden. Es begrapschte die Worte, die meine Mutter geschrieben hatte. »Lass meine Sachen in Ruhe!«, sagte ich.
Das Mädchen sah mich überrascht an. Es hatte nicht gewusst, dass ich sprechen konnte. Wir waren nun schon monatelang zusammen in diesem Zimmer gewesen, und ich hatte noch kein einziges Wort gesagt.
»Leg es sofort zurück!«, sagte ich.
Sein Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. Es griff nach einer Seite, zerknüllte sie und riss sie aus dem Buch, während es mich herausfordernd ansah. Was sollte ich tun? Die Worte meiner Mutter zwischen seinen schuppigen Fingerknöcheln. Was sollte ich tun, was sollte ich bloß tun? Es riss noch eine Seite heraus, stopfte sie sich in den Mund; grinste mich an, während die Papierfetzen zwischen seinen blasenbedeckten Lippen hingen.
Ich fiel über es her und schlug es zu Boden. Setzte mich auf es, meine Knie in seinem Rücken, presste das dunkle Klappmesser meiner Mutter gegen seine Wirbelsäule. Ein Lied, das mir in Fleisch
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